Fahreignung, neue Führerprüfung, Geschwindigkeit, Abstand

BGE 1C_76/2017: Fahreignungsabklärung und vorsorglicher Führerausweisentzug (Bestätigung Rechtsprechung)

Alkohol und Drogen (u.a. Kokain) sowie Suizidversuche berechtigen zu ernsthaften Zweifeln und demnach zu einem vorsorglichen Führerausweisentzug.

E. 5: „Wecken konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen, ist eine verkehrsmedizinische Untersuchung durch einen Arzt und/oder eine psychologische Abklärung durch einen Verkehrspsychologen anzuordnen (Art. 15d Abs. 1 SVG und Art. 28a Abs. 1 VZV). Wird eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet, so ist der Führerausweis nach Art. 30 VZV im Prinzip vorsorglich zu entziehen (BGE 125 II 396 E. 3 S. 401; Urteil 1C_434/2016 vom 1. Februar 2017 E. 2.1 mit Hinweisen).“

 

BGE 1C_13/2017: Fahreignung und Alkohol  (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Entscheid ist interessant, weil das BGer hervorhebt, dass die Voraussetzungen von SVG 15d und VZV 30 nicht die gleichen sind, obwohl die Massnahmen meist. in einem Zug verfügt werden.

Nachdem das Auto des Beschwerdeführers mit Beschädigungen auf einem Trottoir gefunden wurde, wurde dieser von der Polizei zuhause angetrunken aufgefunden. Die Blutprobe ergab einen Wert von 2.12 bis 2.34 Gewichtspromille. Das StVA ordnete eine Fahreignungsabkärung sowie einen vorsorglichen Führerausweisentzug an. Nachdem bereits im kant. Instanzenzug festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des vorsorglichen Ausweisentzuges nicht erfüllt sind, wehrt sich der Beschwerdeführer noch gegen die Fahreignungsabklärung. Während dem Verfahren verursacht der Beschwerdeführer einen Selbstunfall mit einem E-Bike in angetrunkenem Zustand. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 3.1. zur Trunksucht: “ [Bei einer Sucht] kann der Ausweisentzug selbst ohne Vorliegen einer konkreten Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften erfolgen (Urteil 1C_101/2015 vom 8. Juli 2015 E. 3.1). Trunksucht wird nach der Praxis des Bundesgerichts bejaht, wenn der Fahrzeugführer regelmässig so viel Alkohol konsumiert, dass seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er keine Gewähr bietet, den Alkoholkonsum zu kontrollieren und ihn ausreichend vom Strassenverkehr zu trennen, so dass die Gefahr nahe liegt, dass er im akuten Rauschzustand am motorisierten Strassenverkehr teilnimmt (BGE 129 II 82 E. 4.1 S. 86 f.; 127 II 122 E. 3c S. 126). “

E. 3.2. zu den Voraussetzungen der Fahreignungsabklärung und des vorsorglichen Ausweisentzuges: „Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind die Anforderungen an die Anordnung einer Fahreignungsuntersuchung nicht dieselben wie für den vorsorglichen Führerausweisentzug, obschon diese beiden Massnahmen häufig zusammen ergehen: Während für Erstere hinreichende Anhaltspunkte ausreichen, welche die Fahreignung in Frage stellen, setzt der vorsorgliche Führerausweisentzug voraus, dass ernsthafte Zweifel an der Fahreignung einer Person bestehen, wie dies namentlich bei konkreten Hinweisen auf eine Alkoholabhängigkeit der Fall ist (zum Ganzen: Urteil 1C_531/ 2016 vom 22. Februar 2017 E. 2.4.2 mit Hinweisen). Die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Untersuchung setzt nicht zwingend voraus, dass der Fahrzeugführer tatsächlich unter dem Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmitteln gefahren ist (vgl. Urteile 1C_111/2015 vom 31. Mai 2015 E. 4.6; 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 3.2; 1C_445/2012 vom 26. April 2013 E. 3.2).“

Die hohe, für eine Gewöhnung sprechende BAK, die Angaben von Drittpersonen über Trinkgewohnheiten, das beschädigte Auto und der E-Bike-Unfall begründen in ihrer Gesamtheit genug Zweifel, damit eine Fahreignungsabklärung gerechtfertigt ist.

 

BGE 1C_135/2017: Langer Zeitraum ohne Fahrpraxis rechtfertigt neue Führerprüfung

Im Dezember 2006 wurde dem Beschwerdeführer der deutsche Führerausweis abgenommen wegen einer Trunkenheitsfahrt und die Wiedererteilung wegen fehlender Fahreignung abgelehnt. Im April 2014 wurde in der Schweiz ein Gesuch um Erteilung des Lernfahrausweis mangels Fahreignung abgelehnt. im Januar 2016 wurde die Fahreignung in Deutschland begutachtet und bejaht. Daraufhin bewilligte das StVA AG die Anmeldung an die Führerprüfung. im März 2016 meldete sich der Beschwerdeführer in der CH ab und in D an, wo er den deutschen Führerschein erhielt. Bereits im Juni 2016 meldete sich der Beschwerdeführer in D wieder ab und in der CH an, woraufhin er den Umtasch des deutschen Ausweises beantragte. Das StVA aberkannte den deutschen Ausweis und machte die Erteilung des CH-Ausweises von einer Führerprüfung abhänging. Der Beschwerdeführer beantragt die Erteilung des CH-Ausweises, eventualiter nach Bestehen einer Kontrollfahrt.

E. 2.3.1 zur Umgehung der Zuständigkeitsbestimmungen: „Ausländische Führerausweise sind auf unbestimmte Zeit abzuerkennen, wenn sie in Umgehung der schweizerischen oder ausländischen Zuständigkeitsbestimmungen im Ausland erworben worden sind (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 VZV). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung umgeht die Zuständigkeitsbestimmungen im Sinne von Art. 45 Abs. 1 Satz 2 VZV nicht nur, wer einen Führerausweis im Ausland erwirbt, obwohl er ihn in der Schweiz hätte erwerben müssen, und den so erworbenen ausländischen Ausweis in der Schweiz verwenden will; es genügt vielmehr bereits, wenn aufgrund objektiver Umstände mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass der betreffende Inhaber den Ausweis in der Schweiz widerrechtlich benützen könnte (BGE 129 II 175 E 2.5 S. 179 f.; vgl. auch Hans Giger, Kommentar SVG, 8. Auflage 2014, N. 4 zu Art. 22 SVG).“

E. 4.2. ff. zur Kontrollfahrt als milderes Mittel: „Bestehen Zweifel an der Fahrkompetenz einer Person, so kann diese einer Kontrollfahrt, einer Theorieprüfung, einer praktischen Führerprüfung oder einer andern geeigneten Massnahme wie einer Aus- oder Weiterbildung oder einer Nachschulung unterzogen werden (Art. 15d Abs. 5 SVG).“

„Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung können Zweifel an der Fahrkompetenz gerechtfertigt sein, wenn ein Führer längere Zeit kein Fahrzeug mehr gelenkt hat. Dabei darf nicht schematisiert werden. Zu würdigen sind die konkreten Umstände des Einzelfalls.“

„Die bundesgerichtliche Rechtsprechung wird in der Lehre zum Teil als zu streng kritisiert. Es wird die Auffassung vertreten, allein gestützt auf die Fahrabstinenz dürfe erst bei einer Dauer von mehr als sechs Jahren gänzlich fehlender Fahrpraxis eine neue Führerprüfung verlangt werden; andernfalls sei zuerst eine Kontrollfahrt anzuordnen. Hiervon könne nur – sowohl nach unten als auch nach oben – abgewichen werden, wenn konkrete weitere Umstände die Zweifel erhärteten oder entkräfteten (Philippe Weissenberger, Kommentar SVG, 2. Auflage 2015, N. 111 zu Art. 15d SVG).“

Fazit: Bei Fahrabstinenz zwischen fünf und sechs Jahren genügt eine Kontrollfahrt, ansonsten ist eine Führerprüfung notwendig.

 

BGE 1C_507/2016: Geschwindigkeitsüberschreitung (Bestätigung Rechtsprechung)

Wegen erneut schwerer Widerhandlung wird dem Beschwerdeführer der Ausweis für 12 Monate entzogen. Keine der angeführten Standardargumente (Ausserortscharakter, Doppelbestrafung, lange Verfahrensdauer) überzeugen das Bundesgericht.

E. 2. zum Ausserortscharakter

E. 3.2. zur langen Verfahrensdauer: „In der Praxis hat das Bundesgericht einen Zeitbedarf von gut 4 bzw. 5 Jahren zwischen Delikt und bundesgerichtlichem Urteil über die Administrativmassnahme als kritisch beurteilt (Urteil 1C_486/2011 vom 19. März 2012 E. 2.2 mit weiteren Hinweisen).“ I.c. allerdings nur drei Jahre.

E. 3.4. zum ne bis in idem-Prinzip: „In Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge, der Warnungsentzug verstosse gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäss Art. 4 Ziff. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. November 1984 (SR 0.101.07) ist auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte  Rivard gegen die Schweiz vom 4. Oktober 2016, Nr. 21563/12, Ziff. 23 ff., zu verweisen. Darin wurde festgestellt, dass der im Administrativverfahren ausgesprochene Warnungsentzug eine Zusatzstrafe zur strafrechtlichen Verurteilung (Busse) darstellt und insoweit nicht gegen den Grundsatz  ne bis in idem verstösst.“

 

BGE 1C_98/2017: Abstand (Bestätigung Rechtsprechung)

Bei einer Geschwindigkeit von 90km/h auf der Autobahn einen Abstand von 5-10 Metern (0.4s) zu halten, ist eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. eine schwere Widerhandlung.

 

Vorsichtspflichten bei Bushaltestellen, Parteientschädigung

BGE 6B_1056/2016: Vorsichtspflichten bei Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel (gutgeheissene Beschwerde)

An einer Bushaltestelle macht eine Fussgängerin unvermittelt einen Schritt nach vorne und wird dadurch vom Aussenspiegel eines Trolleybusses erfasst. Die obere kantonale Instanz (SG) verurteilte den Busfahrer wegen fahrlässiger Körperverletzung. Das BGer heisst die dagegen erhobene Beschwerde gut.

E.1.3.2: „An den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel ist auf ein- und aussteigende Personen Rücksicht zu nehmen (Art. 33 Abs. 3 SVG). Das Trottoir ist den Fussgängern, der Radweg den Radfahrern vorbehalten (Art. 43 Abs. 2 SVG). Muss mit einem Fahrzeug das Trottoir benützt werden, so ist der Führer gegenüber den Fussgängern und Benützern von fahrzeugähnlichen Geräten zu besonderer Vorsicht verpflichtet; er hat ihnen den Vortritt zu lassen (Art. 41 Abs. 2 VRV).“

E. 1.4: „Zuzustimmen ist dem Beschwerdeführer, dass sich die Rücksichtspflicht gemäss Art. 33 Abs. 3 SVG primär an Fahrzeugführer richtet, die an Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel vorbeifahren und die aufgrund von sich dort befindlichen Bussen oder Strassenbahnen mit unvorsichtig auf die Strasse hinaustretenden Personen zu rechnen haben (vgl. BGE 97 IV 242 E. 2 S. 244 f.; Urteile 6B_541/2016 vom 23. Februar 2017 E. 1.5; 1C_604/2012 vom 17. Mai 2013 E. 6.2; 1C_425/2012 vom 17. Dezember 2012 E. 3.1; 4A_479/2009 vom 23. Dezember 2009 E. 5.2). Aus dieser Bestimmung lässt sich folglich keine besondere Vorsichtspflicht für an die Haltestelle heranfahrende Buschauffeure ableiten.“

 

BGE 6B_193/2017: Parteientschädigung bei Übertretungen

Dem Beschwerdeführer wurde ein Verstoss gegen die VTS vorgeworfen. Das Strafbefehlsverfahren wurde eingestellt, eine Parteientschädigung wurde nicht zugesprochen. Entgegen den kantonalen Instanzen spricht sich das BGer für eine PE aus.

E 2.5: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist einem Beschuldigten in der Regel der Beizug eines Anwalts zuzubilligen, jedenfalls wenn dem Deliktsvorwurf eine gewisse Schwere zukommt. Es ist zu beachten, dass es im Rahmen von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO um die Verteidigung einer vom Staat zu Unrecht beschuldigten und gegen ihren Willen in ein Strafverfahren einbezogenen Person geht. Das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht sind zudem komplex und stellen insbesondere für Personen, die das Prozessieren nicht gewohnt sind, eine Belastung und grosse Herausforderung dar. Wer sich selbst verteidigt, dürfte deshalb prinzipiell schlechter gestellt sein. Dies gilt grundsätzlich unabhängig von der Schwere des Deliktsvorwurfs. Auch bei blossen Übertretungen darf deshalb nicht generell davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigerkosten als Ausfluss einer Art von Sozialpflichtigkeit selbst zu tragen hat. Im Übrigen sind beim Entscheid über die Angemessenheit des Beizugs eines Anwalts neben der Schwere des Tatvorwurfs und der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität des Falls insbesondere auch die Dauer des Verfahrens und dessen Auswirkungen auf die persönlichen und beruflichen Verhältnisse der beschuldigten Person zu berücksichtigen (BGE 142 IV 45 E. 2.1; 138 IV 197 E. 2.3.5).“

Fahreignung, Wenden auf Autobahnzufahrt, prov. def. Führerausweis

BGE 1C_144/2017: Keine Fahreignungsabklärung bei LilZ (Laufen in laufunfähigem Zustand), gutgeheissene Beschwerde

Der Beschwerdeführer stürzt in Döttingen in betrunkenem Zustand und bricht sich dabei den Fuss. Der Atemalkoholtest ergibt einen Wert von 2.27g/kg. Da der Beschwerdeführer eine Vorgeschichte mit wiederholten FiaZ-Widerhandlungen hat, meldet der Polizist den Vorfall dem Strassenverkehrsamt. Dieses verfügt eine verkehrspsychologische Begutachtung, aber keinen vorsorglichen Ausweisentzug.

E. 2.1: bzgl. Verkehrsmedizinischer Suchtbegriff

E. 2.2: bzgl. Zweifel an Fahreignung

E. 2.3: bzgl. vorsorglichem Ausweisentzug

E. 3.3: „Besteht ein begründeter Verdacht, dass ein Lenker solche Fahrten unternehmen könnte, ist ihm der Ausweis vorsorglich abzunehmen und seine Fahreignung abzuklären. Die Auffassung des Strassenverkehrsamts, dieses Risiko sei kurz- und mittelfristig – bis zum rechtskräftigen Entscheid über die Anordnung der verkehrspsychiatrischen Abklärung, was bei zwei Rechtsmittelinstanzen im Kanton und einer im Bund Monate oder sogar Jahre dauern kann – tragbar, ist nicht nachvollziehbar. Besteht ein ernsthafter Grund zur Annahme, dass einem Lenker wegen verkehrsrelevanten Alkoholmissbrauchs die Fahreignung abgeht, so besteht das Risiko, dass er sich (stark) betrunken ans Steuer setzt, jederzeit bzw. ab sofort. Ihm ist diesfalls der Ausweis vorsorglich zu entziehen, bis durch ein verkehrsmedizinisches Gutachten feststeht, dass die Befürchtung unbegründet ist.“

E. 3.4: „Damit erscheint es plausibel, dass es sich beim Rauschtrinken vom 19. Dezember 2015, welches keinen Bezug zu einer allfälligen Teilnahme am motorisierten Strassenverkehr hatte, um ein isoliertes Ereignis handelt und damit auch nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Beschwerdeführer erneut einen verkehrsrelevanten Alkoholüberkonsum betreiben könnte. Nachdem das Strassenverkehrsamt den Beschwerdeführer nach dem Vorfall unbehelligt weiterfahren liess und er dies offenbar seit rund 1 ½ Jahren auch tut, ohne dass er Anlass zu Beanstandungen geboten hätte, haben sich die Zweifel an seiner Fahreignung jedenfalls soweit zerstreut, dass sich die Anordnung einer verkehrspsychiatrischen Abklärung nicht (mehr) rechtfertigen lässt. Die Beschwerde ist begründet. “

 

BGE 6B_316/2017: Wenden auf Autobahnzufahrt entspricht SVG 90 II

Der Beschwerdeführer wendete sein Lieferwagen auf einer Autobahnzufahrt in Thun, nachdem er sah, dass auf der Autobahn stockender Verkehr herrschte. Staatsanwaltschaft verurteil wegen SVG 90 II, erste Instanz wegen SVG 90 I, obere Instanz wegen SVG 90 II und das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 2.4 zur subj. Komponente von SVG 90 II: „Der Beschwerdeführer hat die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer keineswegs nicht bedacht, sondern hat diese aufgrund der ausgezeichneten Strassen- und Wetterverhältnisse an diesem Tag, der Verkehrssituation im relevanten Zeitpunkt sowie der guten Übersichtlichkeit der Örtlichkeit ausgeschlossen“ (Beschwerde S. 14). Er anerkennt damit vor Bundesgericht ein überlegtes und damit zumindest bewusst fahrlässiges Handeln, das entgegen seiner Argumentation nach der Rechtsprechung als grobe Fahrlässigkeit zu qualifizieren ist. Denn grobe Fahrlässigkeit ist immer zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist (oben E. 1.2.2).“

 

BGE 6B_370/2016: Nachträgliche Kostentragung des Opfers im Strafverfahren

Im vorliegenden Fall wurde der Täter vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Dagegen legte das Opfer Berufung ein.

E. 2.3.4: „Wer bedürftig ist und eine unmittelbare Beeinträchtigung in seiner körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität durch eine Straftat dartut, hat Anspruch darauf, seine Vorwürfe im Rahmen eines strafprozessualen Untersuchungs- und erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens abklären zu lassen, ohne dabei das Risiko einzugehen, im Falle eines Freispruchs die Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung zurückerstatten zu müssen. Art. 30 Abs. 3 OHG kommt daher auch zum Tragen, wenn die geltend gemachte Straftat im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren nicht nachgewiesen werden kann.“

E. 2.3.5: Anders verhält es sich bezüglich der Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung im Rechtsmittelverfahren, wenn es wie vorliegend bereits erstinstanzlich zu einem Freispruch kam, der Freispruch auch im Berufungsverfahren bestätigt wurde und schliesslich in Rechtskraft erwuchs. In solchen Fällen muss es möglich sein, von der Privatklägerschaft, welche als Opfer im Sinne von Art. 116 StPO Berufung erhob, bei verbesserten wirtschaftlichen Verhältnissen die Rückerstattung der Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung im Berufungsverfahren zu verlangen, auch wenn das Rechtsbegehren auf Schuldigsprechung nicht aussichtslos erschien (was Voraussetzung dafür ist, dass der Privatklägerschaft überhaupt ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt werden kann, vgl. Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO). Insoweit geht die in Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 4 lit. a StPO statuierte Pflicht zur Rückerstattung der Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung im Rechtsmittelverfahren Art. 30 Abs. 3 OHG vor.

 

BGE 1C_95/2017: Der provisorische definitive Fahrausweis

Der Sachverhalt auf einer Zeitachse:

19.08.2011: Erteilung des Führerausweises auf Probe, Kat. B etc.
31.05.2012: Erweiterung des Führerausweises auf Probe, Kat. C etc.

22.05.2013: Verkehrsunfall, mangelnder Abstand, SVG 90 I
07.10.2013: Strafbefehl
16.12.2013: Warnentzug 1 Mt., Verlängerung Probezeit, angefochten

19.08.2014: Erteilung definitiver Ausweis

17.04.2015: Bestätigung Ausweisentzug, obere kantonale Instanz, rechtskräftig
Vollzug Massnahme: 28.01.-27.02.2016

11.03.2016: Mitteilung durch StVA, dass der wiedererteilte Ausweis wieder auf Probe mit Probezeit von einem Jahr ab Ende der Massnahme.

Gesetzliche Grundlagen: Art. 15a Abs. 3 SVG, Art. 35 VZV, Art. 16 Abs. 1 SVG

Der Beschwerdeführer möchte die Erteilung eines definitiven Ausweises mit Gültigkeit ab 19.08.2015, also rückwirkende Anrechnung der Probezeitverlängerung. Die Beschwerde wird abgewiesen, das BGer stellt aber fest, dass hier ein im Gesetz nicht vorgesehener Fall vorliegt.

E. 4.4: Grds. besteht ein Rechtsanspruch auf den def. Führerausweis, wenn die Voraussetzungen dazu erfüllt sind (s. BGE 6B_1019/2016). „Le permis à l’essai est alors échu (cf. art. 95 al. 2 LCR par opposition à l’art. 95 al. 1 let. c LCR; voir également Rapport de la Commission des transports et des télécommunications du Conseil national du 22 avril 2010, in FF 2010 3584 ch. 4) et l’autorité administrative est tenue de délivrer un permis de conduire définitif, à tout le moins provisoirement, si l’intéressé à suivi la formation complémentaire prescrite et déposé le certificat en attestant“.

Tritt danach der Fall ein, dass die Probezeit hätte verlängert werden müssen, so sind gemäss Art. 16 Abs. 1 SVG die Voraussetzungen für den definitiven Ausweis nicht erfüllt: „A l’issue d’une telle procédure judiciaire, en cas de confirmation de la décision de retrait du permis de conduire à l’essai et de la prolongation de la période probatoire, l’une des conditions nécessaire à l’octroi d’un permis définitif – à savoir l’écoulement complet de la période d’essai (cf. art. 15b al. 2 LCR; Message, FF 1999 4130) – n’est plus réalisée de sorte que ce permis définitif doit être retiré en application de l’art. 16 al. 1 LCR (dans le même sens, cf. CÉDRIC MIZEL, op.cit., n. 83.1.5, p. 635 s.).“

Die verlängerte Probezeit muss ab dem Ende der Massnahme beginnen (Art. 35 Abs. 2 VZV): „quant à la prolongation de la période probatoire, qui se matérialise par la délivrance d’un nouveau permis de conduire à l’essai (cf. art. 35 al. 2 OAC) d’une durée d’une année, celle-ci doit impérativement commencer à courir dès la fin de l’exécution de la mesure de retrait sanctionnant la première infraction, en application des art. 15a al. 3 2e phrase LCR et 35 al. 2 OAC.“

E. 4.5: Das Bundesgericht hat erkannt, dass hier ein Systemfehler im Gesetz vorliegt. Die kantonalen Behörden haben keine Möglichkeit, mit der Erteilung des def. Ausweises zuzuwarten, wenn noch Verfahren bzgl. Administrativmassnahmen hängig sind: „Cette solution est certes insatisfaisante et présente une certaine incohérence: elle a pour effet d’entrecouper la période probatoire, soumises à des règles particulières liées au but éducatif poursuivi (cf. ATF 136 II 447 consid. 5.1 p. 454), par un régime de permis définitif. Elle s’impose toutefois pour des motifs de sécurité du droit, l’intéressé étant, d’une part, formellement titulaire d’un permis définitif lors de la commission de la seconde infraction et, d’autre part, la décision portant sur sa première infraction n’étant, par définition, pas encore définitive et exécutoire; cette solution s’impose également d’un point de vue systématique, la loi ne permettant pas la prolongation du permis à l’essai au motif d’une procédure pendante (cf. consid. 4.4), le législateur n’ayant d’ailleurs pas voulu que la période probatoire de trois ans soit prolongée de plus d’une année (cf. Message p. 4130).“

 

Geschwindigkeit

BGE 6B_95/2017: Schematismus GÜ (tlw. Gutgeheissene Beschwerde, allerdings kassatorisch)

Der Beschwerdeführer fuhr in einer 30er Zone 22km/h zu schnell, wofür er von den kantonalen Instanzen – entgegen dem Schematismus – wegen SVG 90 II verurteilt wurde. Das BGer heisst die Beschwerde gut, weist die Sache allerdings an die Vorinstanz zurück, da diese den Sachverhalt ungenügend ermittelt habe und somit nicht festgestellt werden konnte, ob die strengen Voraussetzungen von SVG 90 II erfüllt sind.

Fazit: Gewisse Tendenzen sind erkennbar, dass die Strafbehörden eine Verschärfung des Schematismus zu erreichen versuchen.

Strafbarkeit des Begleiters einer Lernfahrt

BGE 6B_1387/2016: Strafbarkeit des Begleiters auf Lernfahrt (Bestätigung Rechtsprechung)

Ein junges Pärchen gerät ins Visier der Strafbehörden. Sie fährt mit einem Lernfahrausweis, er sitzt daneben mit dem Führerausweis auf Probe und 1.57% Blutalkoholkonzentration. Am Auto war kein L-Zeichen angebracht. Das BGer bestätigt die kantonale Urteile u.a. wegen Übernahme der Funktion einer Begleitperson ohne die Voraussetzungen zu erfüllen und FiaZ.

E. 2.2: Für strafbare Handlungen auf Lernfahrten ist der Begleiter verantwortlich, wenn er die Pflichten verletzt hat, die ihm als Folge der Übernahme der Begleitung oblagen. Der Fahrschüler ist verantwortlich, soweit er eine Widerhandlung nach dem Stand seiner Ausbildung hätte vermeiden können (Art. 100 Ziff. 3 SVG). Dabei kommt es nach der Doktrin nicht darauf an, ob der Mitfahrer die tatsächlichen Anforderungen an eine Begleitperson tatsächlich erfüllt. Es genügt, dass er die Aufgabe des Begleiters effektiv übernimmt. Erfüllt er die Voraussetzungen von Art. 15 Abs. 1 SVG nicht, macht er sich zusätzlich nach Art. 95 Abs. 3 lit. b SVG schuldig.

Des Führens eines Motorfahrzeuges im angetrunkenen Zustand im Sinne von Art. 91 SVG macht sich nach der Rechtsprechung auch der Begleiter bei einer Lernfahrt schuldig. Dieser ist von Gesetzes wegen an der Führung des Fahrzeuges durch den Fahrschüler beteiligt.

Motorrad ohne Licht als Unfallgegner, Vertrauensgrundsatz

BGE 6B_1211/2016: Das Motorrad ohne Licht als Unfallgegner (Bestätigung Freispruch)

Der Beschwerdegegner – der Motorrad führt Beschwerde gegen den Freispruch des Autofahrers – bog bei fortgeschrittener Dämmerung auf einer Hauptstrasse nach links ab, übersah dabei den entgegenkommenden und grds. vortrittsberechtigten Motorradfahrer, da dessen Vorderlicht nicht funktionierte und dieser auch noch Dunkel gekleidet war. Das Bundesgericht bestätigt den letztinstanzlichen, kantonalen Freispruch vom Vorwurf der Vortrittsmissachtung bzw. fahrlässiger Körperverletzung.

E. 3.2: „[Der Autofahrer] habe auch nicht damit rechnen müssen, dass ihm ein Motorradfahrer ohne funktionierendes Vorderlicht und damit vorschriftswidrig entgegenkommen würde. Anlässlich des Abbiegemanövers habe der Beschwerdegegner seine Aufmerksamkeit alsdann nicht nur auf die Gegenfahrbahn, sondern auch auf die Einspurstrecke bzw. die Einfahrt in die Sernftalstrasse samt dortigem Fussgängerstreifen, mithin auf verschiedene Stellen gleichzeitig richten müssen, wobei in dubio pro reo davon auszugehen sei, dass er dies auch getan habe. In einer solchen Situation könne vom abbiegenden Beschwerdegegner nicht verlangt werden, dass er an einem Ort etwas erkenne, was nur schwer sichtbar sei. Seine Verteidigung weise zutreffend darauf ihn, dass ein Autolenker sich bei Dunkelheit bei seinem Abbiegemanöver in Bezug auf das Vortrittsrecht primär an beleuchteten Fahrzeugen orientiere und dass der Entscheid, Vortritt zu gewähren oder loszufahren, in der Regel innert kurzer Zeit getroffen werde. Daher könne dem Beschwerdegegner keine Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden, wenn er bei der Kontrolle der Gegenfahrbahn aufgrund der gesamten Umstände nur Dunkelheit und kein Licht erblickt habe und deshalb davon ausgegangen sei, dass kein Gegenverkehr nahe, dem er Vortritt hätte gewähren müssen. Für eine mangelnde Aufmerksamkeit oder ein anderes pflichtwidriges Verhalten bestünden im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte.“

Vereitelung, Geschwindigkeitsschematismus, der Drifter als Raser?

BGE 6B_1323/2016: Vereitelung – Nach Unfall darf man nicht trinken (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Titel sagt es bereits, nach einem Unfall mit Sachschaden darf man einfach nichts mehr Trinken, ansonsten man wegen Vereitelung drankommt.

E. 1.2: „Die Unterlassung der sofortigen Meldung eines Unfalls an die Polizei erfüllt den objektiven Tatbestand der Vereitelung einer Blutprobe, wenn (1) der Fahrzeuglenker gemäss Art. 51 SVG zur sofortigen Meldung verpflichtet ist, (2) die Meldepflicht der Abklärung des Unfalls und damit allenfalls auch der Ermittlung des Zustands des Fahrzeuglenkers dient (Zweckzusammenhang), (3) die Benachrichtigung der Polizei möglich war und wenn (4) bei objektiver Betrachtung aller Umstände die Polizei bei Meldung des Unfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Blutprobe angeordnet hätte (BGE 142 IV 324 E. 1.1.1; 126 IV 53 E. 2a; 125 IV 283 E. 3). Während die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer Blutprobe nach der bisherigen Rechtsprechung von den konkreten Umständen des Falles (Art, Schwere und Hergang des Unfalls, Zustand sowie Verhalten des Fahrzeuglenkers vor und nach dem Unfall) abhängig gemacht wurde (BGE 131 IV 36 E. 2.2.1; 126 IV 53 E. 2a), muss nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich bereits mit der Anordnung einer Alkoholkontrolle gerechnet werden, wenn ein Fahrzeugführer in einen Unfall verwickelt ist (BGE 142 IV 324 E. 1.1.2 f.).“

 

BGE 6B_444/2016: Schematismus bei GÜ (Verschärfung)

Der Beschwerdeführer fuhr auf der Autobahn N1 in einem mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80km/h signalisierten Baustellenbereich mit 119km/h, nach Toleranzabzug 33km/h zuviel. Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung gemäss SVG 90 II der kantonalen Instanzen.

E. 1.1: Zunächst folgen Ausführungen zum bereits etablierten Schematismus:

„Dans le domaine des excès de vitesse, la jurisprudence a été amenée à fixer des règles précises afin d’assurer l’égalité de traitement. Ainsi, le cas est objectivement grave au sens de l’art. 90 al. 2 LCR, sans égard aux circonstances concrètes, en cas de dépassement de la vitesse autorisée de 25 km/h ou plus à l’intérieur des localités, de 30 km/h ou plus hors des localités et sur les semi-autoroutes dont les chaussées, dans les deux directions, ne sont pas séparées et de 35 km/h ou plus sur les autoroutes.“

E. 1.3: Danach stellt es aber fest, dass die GÜ in einem Baustellenbereich begangen wurde, wo nicht die normale Höchstgeschwindigkeit von 120km/h, sondern 80km/h galt. Die „magische Grenze“ von 35km/h zuviel für die grobe Verkehrsregelverletzung gelte aber nur für den Normalbereich von 120km/h. Wenn auf der Autobahn 80km/h als Höchstgeschwindigkeit gelte, so sei dies eher mit einer Ausserortsstrecke vergleichbar, insb. wenn die Limite wegen einer Baustelle gilt. Insofern gelte dann die „magische Grenze“ für Ausserortsstrecken von 30km/h auch für die Autobahn für die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung.

„Dans certaines situations, un tronçon autoroutier régi par une limite de vitesse inférieure à 120 km/h, plus particulièrement en cas de limitation à 80 km/h, est comparable, eu égard au danger potentiel, à une route située en dehors d’une localité et non à une autoroute. Cela signifie qu’en matière d’excès de vitesse, ce sont les principes développés par la jurisprudence pour les routes situées en dehors des localités qui doivent, en règle générale, être appliqués (cf. ATF 128 II 131 consid. 2b). En l’espèce, le tronçon autoroutier était limité à une vitesse maximale de 80 km/h en raison de travaux. Des ouvriers travaillaient derrière un grillage apposé sur une bande herbeuse. La bande d’arrêt d’urgence était fermée afin de permettre aux ouvriers de travailler et de décharger leur matériel. Les usagers disposaient de deux voies dans le sens de la marche (arrêt attaqué, p. 3 let. f). La présence d’un chantier et d’ouvriers impliquait un danger particulier. Dans une telle configuration, il convient de considérer que le tronçon, quand bien même les usagers disposaient de deux voies dans le même sens de marche, s’apparente à une route hors localité. Le dépassement de vitesse litigieux de 33 km/h est supérieur à 30 km/h qui constitue le seuil pour le cas grave hors localité et peut par conséquent être objectivement qualifié de grave.“

 

BGE 6B_876/2016: Wer driftet, ist kein Raser

Der Beschwerdegegner beschleunigte seinen 580 PS starken Audi RS6 in Zürich an einer Ampelanlage in massiver Weise, um nach rechts in die anschliessende Strasse zu driften. Dabei verlor er die Herrschaft über seinen Boliden und wurde dabei schwer verletzt, sein Beifahrer leicht. Die obere kantonale Instanz (ZH) verurteilte den Lenker gemäss SVG 90 II. Die Oberstaatsanwaltschaft führt Beschwerde mit dem Begehren, den Beschwerdegegner als Raser gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG – Vorsatz erforderlich – zu verurteilen. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 3 – Abgrenzung (Eventual)Vorsatz von bewusster Fahrlässigkeit

E. 4 – Subsumption: „[Die Beschwerdeführerin] verkennt, dass gemäss gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung insbesondere bei Unfällen im Strassenverkehr nicht ohne Weiteres aus der (hohen) Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden kann. Ein Fahrzeuglenker droht – wie vorliegend auch – durch sein gewagtes Fahrverhalten meistens selbst zum Opfer zu werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen häufig das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht (vgl. BGE 133 IV 9 E. 4.4 S. 20; Urteil 6B_411/2012 vom 8. April 2013 E. 1.3; je Hinweisen).

Dass der Beschwerdegegner sich im physikalischen Grenzbereich befand, wie die Beschwerdeführerin mehrfach betont, ist dem „Driften“ immanent und spricht nicht gegen die vorinstanzliche Annahme, der Beschwerdeführer habe in Selbstüberschätzung und Verkennung der aus seinem Fahrmanöver resultierenden Gefahren im Sinne bewusster (und grober) Fahrlässigkeit darauf vertraut, sein Fahrzeug kontrolliert durch die Kurve zu manövrieren.“

Vortrittsmissachtung

BGE 1C_403/2016: Vortrittsmissachtung beim Spurwechsel mit Kollisionsfolge ist mittelschwere Widerhandlung

Nichts Neues, interessant aber die Ausführungen zum Vortritt in der Rush Hour:

E. 2.1.: „Um den besonderen Verhältnissen bei hohem Verkehrsaufkommen Rechnung zu tragen, lässt die neuere Rechtsprechung zu, dass eine relevante Behinderung ausnahmsweise erst dann angenommen wird, wenn der vortrittsberechtigte Fahrer seine Fahrweise brüsk ändern muss, d.h. er zu brüskem Bremsen, Beschleunigen oder Ausweichen gezwungen wird (vgl. BGE 114 IV 146 S. 147 f.; Urteil 6B_821/2014 vom 2. April 2015 E. 1.3; je mit Hinweisen). So kann im dichten Innerortsverkehr in gewissen Situationen ein Verzicht auf das Vortrittsrecht im Interesse der Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs angezeigt sein. Namentlich bei besonders schwierigen Situationen des Wartepflichtigen kann wünschbar sein, dass ihm ein Vortrittsberechtigter durch Verlangsamen der Fahrt das Einbiegen ermöglicht, wenn dies ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer geschehen kann. Im Interesse der Rechtssicherheit und der Verkehrsflüssigkeit auf den vortrittsberechtigten Fahrbahnen ist aber auch in solchen Fällen nur mit grösster Zurückhaltung anzunehmen, ein Wartepflichtiger habe das Vortrittsrecht nicht vollständig zu respektieren (vgl. BGE 105 IV 341 E. 3a S. 340 f.; 6B_453/2012 19. Februar 2013 E. 2.2.2 mit Hinweisen).“

Das rechtsüberholende Velo

BGE 6B_164/2016: Präzisierung Rechtsprechung; Das rechtsüberholende Velo

Im Juni 2012 biegt ein Sattelschlepper mit Anhänger in Luzern rechts ab und überrollt dabei den ihn rechts überholenden Velofahrer. Der LKW-Fahrer wird erstinstanzlich wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen, was von der oberen kantonalen Instanz bestätigt wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde wird vom BGer gutgeheissen.

Zur fahrlässigen Tötung E. 2.1: „Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung setzt somit voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat. Dies ist der Fall, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat auf Grund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen, und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat.“

Zum Überholmanöver des Velofahrers: „Nach Art. 42 Abs. 3 VRV dürfen Radfahrer rechts neben einer Motorfahrzeugkolonne vorbeifahren, wenn genügend freier Raum vorhanden ist; das slalomartige Vorfahren ist untersagt. Sie dürfen die Weiterfahrt der Kolonne nicht behindern und sich namentlich nicht vor haltende Wagen stellen. Die Vorschriften zum Überholen sind sinngemäss auch auf das Vorbeifahren im Sinne von Art. 42 Abs. 3 VRV anwendbar (STEFAN MAEDER, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 19 zu Art. 35 SVG). Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass nach Art. 42 Abs. 3 VRV Radfahrer selbst dann an Fahrzeugen rechts vorbeifahren dürfen, wenn diese das rechte Blinklicht eingeschaltet haben (BGE 127 IV 34 E. 3c/aa; Urteil 6S.293/1999 vom 23. November 1999 E. 4a). Dies ist zu präzisieren. Art. 35 SVG enthält keine Sondervorschrift für das Überholen von Rechtsabbiegern, weshalb dieses Manöver nach Art. 35 Abs. 3 SVG zu beurteilen ist (HANS GIGER, SVG Kommentar, 8. Aufl. 2014, N. 29 zu Art. 35 SVG; siehe auch STEFAN MAEDER, a.a.O, N. 80 zu Art. 35 SVG). Ein Fahrzeugführer, der in einer sich bewegenden Fahrzeugkolonne mittels der entsprechenden Richtungsanzeige die Absicht signalisiert, nach rechts abbiegen zu wollen, wird von einem rechtsvorbeifahrenden Velofahrer behindert, wenn Letzterer nicht vorbeifahren kann, ohne den Weg des abbiegenden Fahrzeugs schneiden zu müssen. In diesem Fall erlaubt Art. 35 Abs. 3 SVG kein rechtsseitiges Vorbeifahren.“

Zum Vertrauensgrundsatz: „Der Beschwerdeführer durfte gestützt auf Art. 26 Abs. 1 SVG darauf vertrauen, beim Abbiegen nicht rechts überholt zu werden. Ihm ist demnach keine Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen, womit er sich der fahrlässigen Tötung nicht schuldig gemacht hat.“

Fazit: Velofahrer dürfen in der Kolonne Fahrzeuge nur rechtsüberholen, wenn sie dieses Manöver abschliessen können, bevor der rechtsabbiegende Auto- oder LKW-Fahrer seinerseits sein Abbiegemanöver beginnt.

Blaulicht als Rechtfertigung?, Auflagen, Fahren unter Medikamenteneinfluss, Rechtsfahrgebot

BGE 6B_930/2016: Blaulicht schützt vor Strafe nicht

Der Beschwerdeführer ist Polizist. Er überfuhr mit Blaulicht und Sirene eine rote Ampel und kollidierte mit einem korrekt fahrenden Fahrzeug. Das BGer bestätigt die Verurteilung gemäss SVG 90 II.

Erwägung 1.3: „Missachtet der Führer eines Feuerwehr-, Sanitäts-, Polizei- oder Zollfahrzeugs auf dringlichen oder taktisch notwendigen Dienstfahrten Verkehrsregeln oder besondere Anordnungen für den Verkehr, so macht er sich nicht strafbar, wenn er alle Sorgfalt walten lässt, die nach den Umständen erforderlich ist (Art. 100 Abs. 4). “

„Indem der Beschwerdeführer beim Befahren der Kreuzung seine Aufmerksamkeit ausschliesslich nach rechts richtete und den anderen Bereichen der Kreuzung keine Beachtung schenkte, verletzte er elementarste Sorgfaltsregeln und gefährdete dabei ernstlich andere Verkehrsteilnehmer. Im Übrigen kann auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz verwiesen werden (Art. 109 Abs. 3 BGG). Die Verurteilung wegen fahrlässiger grober Verletzung der Verkehrsregeln verletzt kein Bundesrecht.“

 

BGE 1C_545/2016: Verhältnismässigkeit von Auflagen nach FiaZ

Ein Lenker wird mit einer BAK von 1.8 bis 2.42 Gewichtspromille erwischt. Nach erfolgter Fahreignungsabklärung wird ihm die Fahrerlaubnis wiedererteilt. Nulltoleranz am Steuer, ansonsten sozialverträglicher Alkoholkonsum. Nachkontrolle mit Haarproben. Trotz zwischenzeitlich erfolgtem Sicherungsentzug äussert sich das BGer zur Verhältnismässigkeit der Auflagen:

Erwägung 2.2: „Danach ist der Beschwerdeführer nicht zu einer Totalabstinenz verpflichtet, sondern darf moderat Alkohol konsumieren. Lediglich beim Führen eines Motorfahrzeugs gilt eine Nulltoleranz. Dies erscheint verhältnismässig. Unverhältnismässig erscheint unter den gegebenen Umständen jedoch, die Abstinenzkontrolle nicht mit einer zeitlichen Beschränkung zu versehen.“

 

BGE 1C_536/2016: Nachweis FuM

Bei einer Verkehrskontrolle stellt ein Polizist beim Beschwerdeführer „schläfriges Verhalten und gerötete, wässrige Augen“ fest. Der Drogenschnelltest ist positiv bzgl. Amphetaminen. Der Lenker gab bei der Kontrolle an die Medikamente Paroxetin (Antidepressivum) und Clozapin (Neuroleptikum) einzunehmen. Die Blutprobe war negativ. Trotzdem schloss die Arztperson aufgrund der Medikamenten und der Aussage des Polizisten auf Fahrunfähigkeit.

Der Beschwerdeführer wurde rechtskräftig gemäss Art. 91 Abs. 2 SVG bestraft. Das StVA AG verfügte eine Fahreignungsabklärung ohne vorsorglichen Ausweisentzug. Das Gutachten war positiv und Auflagen waren nicht nötig. In der Folge enzog das StVA AG den Führerausweis für drei Monate wegen dem FuM. Das BGer heisst die dagegen erhobene Beschwerde gut.

Zur Bindung an das Strafurteil E. 3.3.3: „Vorliegend steht indessen keineswegs fest, dass sich der Beschwerdeführer bewusst war, dass er auf Dritte immer einen schläfrigen Eindruck macht. Diese Annahme des Verwaltungsgerichts findet in den Akten keine Stütze. Der Umstand wurde erst von der Gutachterin des PDAG beweismässig erstellt, indem sie den Hausarzt des Beschwerdeführers kontaktierte, dessen Auskunft sich mit ihrer eigenen Feststellung, der Beschwerdeführer wirke etwas träge, deckt. Diese Beweismittel wurden nach dem Erlass des Strafbefehls produziert und sind damit im Administrativverfahren zu berücksichtigen.“

Zur Fahrunfähigkeit: „Die Blutanalyse ergab, dass der Beschwerdeführer, wie er selber zu Protokoll gegeben hatte, ein Antidepressivum und ein Neuroleptikum zu sich genommen hatte und sich diese Medikamente in einer pharmakologisch wirksamen Konzentration in seinem Blut nachweisen liessen. Da indessen die Fahreignung des Beschwerdeführers von einer gut eingestellten Medikation – sie war im Zeitpunkt der Verkehrskontrolle und des PDAG-Gutachtens gleich – abhängt, spricht der Nachweis dieser beiden Medikamente in therapeutischer Konzentration im Blut des Beschwerdeführers nicht gegen, sondern für seine Fahrfähigkeit. Zusammenfassend lassen das Polizeiprotokoll, der Arztbericht und das Kurzgutachten den Schluss nicht zu, dass der Beschwerdeführer, als er in die Verkehrskontrolle geriet, stark übermüdet und fahrunfähig war.“

Fazit: Das sonst so teure und verhasste verkehrsmedizinische Gutachten erwies sich in vorliegendem Fall als Hauptargument gegen eine durch Medikamente verursachte Fahrunfähigkeit. Der Verkehrsmediziner bewies sozusagen rückwirkend die Fahrfähigkeit des Lenkers.

 

BGE 1C_539/2016: Ungenügendes Rechtsfahren mit Streifkollision

Ein Lenker verursacht durch ungenügendes Rechtsfahren eine Streifkollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Er wird gemäss SVG 34 I i.V.m. 90 I gebüsst. Das BGer bestätigt die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung (StVA BE), womit der Führerausweis auf Probe annulliert wurde.

Erwägung 3.2.: „Insofern kann es als erwiesen erachtet werden, dass durch die Streifkollision eine Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer hervorgerufen wurde, die nicht mehr nur als leicht eingestuft werden kann. Ein solches Fahrverhalten kann denn auch nach der Rechtsprechung aufgrund der konkreten Gefährdung der Unfallgegner – auch ohne Vorliegen eines tatsächlichen Personenschadens – durchaus einen Führerausweisentzug wegen einer mittelschweren Widerhandlung nach sich ziehen (vgl. Urteil 1C_476/2014 vom 29. Mai 2015 E. 4.3 betreffend Auffahrunfälle).“