Wer trägt die Kosten?

BGE 6B_73/2021: Anwaltskosten im Bereich der einfachen Verkehrsregelverletzung (teilw. gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid dreht sich um die alte Frage, wann der Beizug einer Rechtsvertretung im SVG-Bereich gerechtfertigt ist und der Staat damit deren Kosten tragen muss.

Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, zwei Reiterinnen mit einem Traktor mit zuwenig Abstand überholt zu haben, weshalb er mit einer Busse nach Art. 90 Abs. 1 SVG bestraft wurde. Auf seine Einsprache hin wurde das Strafverfahren eingestellt. Der Staat (Kt. SH) übernahm die Verfahrenskosten, nicht aber die Kosten der Verteidigung, wogegen sich der Beschwerdeführer wehrt.

Wird ein Strafverfahren eingestellt, so hat die beschuldigte Person gemäss Art. 429 StPO Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte, worunter in erster Linie die Kosten einer Strafverteidigung fallen. Der Beizug einer Verteidigung ist grds. gerechtfertigt, wenn das Strafverfahren eine gewisse rechtliche und tatsächlich Komplexität aufweist. Das ist der Fall, wenn dem Deliktsvorwurf eine gewisse Schwere zukommt, was bei Verbrechen und Vergehen grds. zu bejahen ist. Zu beachten ist auch, dass Straf- und Strafprozessrecht generell komplex sind und die meisten Bürger:innen es sich nicht gewohnt sind, zu prozessieren. Wer sich selbst verteidigt, dürte also prinzipiell schlechter gestellt sein. Auch bei Übertretungen darf deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person die Verteidigerkosten aus einer Art Sozialpflichtigkeit selbst zu tragen hat. Bei der Komplexität sind auch die beruflichen Folgen des Strafverfahrens zu berücksichtigen (zum Ganzen ausführlich E. 3.3.1).

Die Vorinstanz stellt sich zusammengefasst auf den Standpunkt, dass es lediglich um eine Übertretung gegangen sei, keine Administrativmassnahme ausgesprochen werde und deshalb die Sache keine grosse Komplexität aufweise. Der Beschwerdeführer hingegen führt aus, dass der Sachverhalt durchaus komplex war, da die staatsanwaltlichen Einvernahmen einen ganzen Tag dauerten. Zudem habe der Beschwerdeführer nach Erhalt des Strafbefehls einen Herzinfarkt erlitten (vgl. E. 3.3.3).

Das Bundesgericht stimmt dem Beschwerdeführer zu. Dieser hat erst nach Erhalt des Strafbefehls einen Rechtsverteidiger hinzugezogen. Zudem drohte ihm durchaus eine administrative Massnahme bzgl. seiner Fahrerlaubnis, was seinen Berufsalltag als Bauer erschwert hätte. Warum die Vorinstanz das anders sieht, ist für das Bundesgericht nicht nachvollziehbar. Zu berücksichtigen ist zudem, dass allfällige Administrativmassnahmen gerade für ältere Fahrzeugführer wie den Beschwerdeführer die Gefahr einer Infragestellung ihrer Fahreignung als solcher bergen. Auch in strafprozessualer Hinsicht musste der Beschwerdeführer mit einer Anklage rechnen. Aus all diesen Gründen war der Beizug einer Verteidigung gerechtfertigt.

Das Bundesgericht bestätigt damit seine Rechtsprechung zu den Übertretungen im SVG-Bereicht (vgl. z.B. BGE 6B_322/2017) und heisst die Beschwerde in diesem Punkt gut.

Unfall auf der Schlittelpiste

BGE 6B_1209/2020: Voraussetzungen der Einstellung (gutgh. Beschwerde)

Im Dezember 2017 verunfallten die Beschwerdeführer auf einer Schlittelpiste in Obwalden. Beide wurden bei dem Unfall schwer verletzt. Einer der Beschwerdeführer wurde dauerhaft invalid. Das Strafverfahren gegen Unbekannt und wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung durch Unterlassen stellte die Staatsanwaltschaft ein, was von den kantonalen Instanzen geschützt wurde. Dagegen wehren sich die Beschwerdeführer erfolgreich vor Bundesgericht.

Der Fall dreht sich um die Frage, wie weit die Verkehrssicherungspflicht von Betreiber von Schlittelpisten geht, denn die Beschwerdeführer verunfallten auf der Piste ausserhalb der Betriebszeiten. Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass ausserhalb der Betriebszeiten eine Sicherungspflicht gänzlich entfalle und stützt sich dabei auf die SKUS-Richtlinien. Mangels Unterlassungs- bzw. Fahrlässigkeitshandlung sei deshalb das Strafverfahren zu Recht eingestellt worden (E. 2.2). Die Beschwerdeführer hingegen bringen vor, dass bei einer gerichtlichen Beurteilung keinesfalls klar ein Freispruch erfolgen würde, denn Schlittelpisten können auch ausserhalb der Betriebszeiten befahren werden. Zudem muss beim Bestehen einer Sicherungspflicht stets von atypischen Gefahren ausgegangen werden. Und zuletzt befand sich auf der Piste eine falsche Signalisation, ein Pfeil in die falsche Richtung, just dort, wo die Beschwerdeführer verunfallten (E. 2.1).

Gemäss Art. 319 Abs. 1 lit a und b StPO wird ein Strafverfahren eingestellt, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt, oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist. Dabei hat sich die Strafbehörde nach dem Grundsatz „in dubio pro duriore“ zu richten. Erscheint ein Schuldspruch wahrscheinlicher, als ein Freispruch, so hat die Strafbehörde Anklage zu erheben bzw. einen Strafbefehl zu erlassen. Sind die Chancen auf einen Freispruch etwa gleich wie auf einen Schuldspruch, muss insb. bei schweren Delikten eine Anklage erfolgen. Das BGer greift in das strafbehördliche Ermessen nur zurückhaltend ein (vgl. zum Ganzen E. 2.4.1).

Die fahrlässige Körperverletzung ist je nach Schweregrad der Schädigungen des Opfers ein Antrags- oder Offizialdelikt. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. Dass Mass der Sorgfalt kann sich u.a. auch aus privaten Richtlinien ergeben. Der eingetretene Erfolg – also hier der Schlittelunfall – muss für die Verantwortlichen vorhersehbar und insofern vermeidbar gewesen sein. Die Vorhersehbarkeit misst sich nach der Adäquanz. Diese ist zu verneinen, wenn der eingetretene Erfolg dermassen pythonesk ist, dass man damit einfach nicht rechnen musste. Dann lässt er sich auch nicht vermeiden (zum Ganzen ausführlich E. 2.4.2).

Bergbahn- und Skiliftunternehmen trifft eine Verkehrssicherungspflicht, sie müssen also ihre Pisten so sicher wie möglich machen. Die Grenze liegt bei der Zumutbarkeit von Massnahmen sowie der Selbstverantwortung der Schneesportler. In solchen Fällen zieht das BGer regelmässig die oben erwähnten SKUS-Richtlinien herbei für die Beantwortung der Frage, ob die Sicherungspflichten eingehalten wurden. Gemäss den SKUS-Richtlinien ist es verboten Schlittelwege zu benutzen, wenn sie offensichtlich geschlossen sind. Allerdings gilt nach den SBS-Richtlinien (Seilbahnen Schweiz, Die Verkehrssicherungspflicht auf Schneesportanlagen) die Pflicht, Schlittelwege von atypischen Gefahren zu sichern. Atypisch sind Gefahren, welche die Benutzer bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht zu erkennen vermögen oder die auch bei vorsichtigem und den persönlichen Fähigkeiten angepasstem Fahren zu Unfällen führen können. Gibt es Sonderanlässe, wie z.B. eine Nachfahrt, muss die Piste gesichert werden (E. 2.4.3-4).

Am Tag des Unfalles vermieteten die Sportbahnen trotz geschlossener Schlittelpiste Schlitten und transportierten diese mitsamt Kunden zur Bergstation. In einer Hütte an der Schlittelpiste fand ein öffentlicher Sylvesteranlass statt. Die Hütte war nur mit Schlitten oder Schneesportgerät erreichbar. Zudem war im Internet ein Flyer abrufbar, welcher entgegen der Schliessung der Schlittelpiste dafür war, dass diese auch spät abends noch befahrbar war. Trotz diesen Einzelfallumständen, also dass höchstwahrscheinlich noch Personen die Piste benutzen werden, verneinte die Vorinstanz eine Verkehrssicherungspflicht der Bergbahnen. Indem sich die kantonalen Instanzen aber zuwenig mit den Einzelfallumständen auseinandersetzten und generell davon ausgingen, dass bei geschlossener Piste keine Sicherungspflichten bestanden, verletzte sie Bundesrecht. Es liegt insofern kein klarer Fall von Straflosigkeit vor. Das Strafverfahren hätte nicht eingestellt werden dürfen, zumal die Geschädigten schwer verletzt wurden.

Entschädigung von Dritten im Strafverfahren

BGE 6B_930/2020: Der glückliche Dritte (gutgh. Beschwerde)

Diesem Entscheid liegt eine lange Prozessgeschichte zugrunde. Zusammengefasst erhielt der Beschwerdeführer von einer Drittperson grosse Geldbeträge. Diese Drittperson wurde wegen div. Vermögensdelikten verurteilt. Die Gerichte urteilten, dass der Beschwerdeführer als Dritter die Vermögenswerte im tiefen sechsstelligen Bereich zurückgeben müsse bzw. dass diese eingezogen werden. Dagegen wehrte sich der Beschwerdeführer zweimal erfolgreich vor Bundesgericht. Zuletzt urteilte das Obergericht Kt. ZH, dass der Beschwerdeführer keine Ersatzforderung mehr an den Staats leisten muss. Zudem sprach es ihm für die Verfahren eine Entschädigung zu. Der Beschwerdeführer gelangt gegen diesen Entscheid an das Bundesgericht. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die kantonalen Instanzen seine Entschädigung zu tief ansetzten. Insb. habe es die Vorinstanz unterlassen, grundsätzlich von Amtes wegen über seine bereits im 6-jährigen Vorverfahren entstandenen Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche zu befinden. In diesem gab es u.a. eine Hausdurchsuchung, bei welcher der Laptop des Beschwerdeführers mitsamt weiteren Datenträger beschlagnahmt wurden, sodass sich sein Studienabschluss um mehr als drei Jahre verzögerte.

Wird die beschuldigte Person freigesprochen, so hat sie gemäss Art. 429 StPO Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte, Entschädigung wirtschaftlicher Einbussen und Genugtuung. Die Strafbehörde muss den Anspruch von Amtes wegen prüfen. Das bedeutet aber nicht, dass sie selber alle Untersuchungen dazu durchführen muss. Sie hat aber die Parteien zur Frage mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen. Die betroffene Person trifft also eine Mitwirkungspflicht (E. 1.2.1).

Dritte haben gemäss Art. 434 StPO ebenfalls Anspruch auf angemessenen Ersatz ihres nicht auf andere Weise gedeckten Schadens sowie auf Genugtuung, wenn sie durch Verfahrenshandlungen oder bei der Unterstützung von Strafbehörden Schaden erlitten haben. Die Strafbehörden müssen dabei Dritte – analog zur beschuldigten Person – auf ihr Entschädigungsrecht und die Mitwirkungspflicht hinweisen (E. 1.2.2).

Der Beschwerdeführer verlangt als Dritter eine Entschädigung und stellt sich auf den Standpunkt, dass er von den Strafbehörden nicht aufgefordert wurde, bei der Bezifferung mitzuwirken. Denn der Beschwerdeführer wurde im gerichtlichen Verfahren von einem anderen Anwalt vertreten, als im strafrechtlichen Vorverfahren. Bei der Bezifferung der Ansprüche wies der zweite Anwalt die Vorinstanz darauf auch hin. Für die Vorinstanz war also erkennbar, dass im Vorverfahren ein anderer Anwalt tätig war. Sie hätte also im Lichte der Rechtsprechung zu Art. 429 und 434 StPO den Beschwerdeführer auffordern müssen, seine Ansprüche zum Vorverfahren zu beziffern. Indem sie dies nicht tat, wurde das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Präventive erkennungsdienstliche Erfassung

BGE 1B_171/2021: Wann darf man erfasst werden? (Gutgh. Beschwerde)

Gegen den Beschwerdeführer wird ein Strafverfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie Beschimpfung geführt. Er schlug den Arm eines Polizisten bei einer Kontrolle weg. Die Staatsanwaltschaft ordnete darauf die erkennungsdienstliche Erfassung an. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Erfassung seiner Körpermerkmale unverhältnismässig und eine Vorratsdatenspeicherung sei. Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, dass die Massnahme zur Klärung der beanzeigten Delikte nicht nötig, aber aufgrund der Vorstrafen des Beschwerdeführers und einer möglichen künftigen Delinquenz trotzdem gerechtfertigt sei.

Bei der erkennungsdienstlichen Erfassung gemäss Art. 260 StPO werden Körpermerkmale einer Person festgestellt, z.B. Fingerabdrücke. Zweck der Zwangsmassnahme ist die Feststellung der Identität einer Person. Die Massnahme ist auch bei Übertretungen möglich (E. 2). Grds. kann die Massnahme auch zulässig sein, wenn sie für die Aufklärung der Straftaten im hängigen Strafverfahren nicht nötig ist. In diesem Fall müssen aber erhebliche und konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die beschuldigte Person in andere – auch künftige – Delikte von gewisser Schwere verwickelt sein könnte. Bei der Verhältnismässigkeitsprüfung ist auch zu prüfen, ob eine Person vorbestraft ist, wobei eine Vorbestrafung nicht zwingend vorausgesetzt ist (E. 4.1).

Vorliegend ist der Beschwerdeführer vorbestraft wegen:
– Gehilfenschaft zur Hinderung einer Amtshandlung;
– Hausfriedensbruch;
– Sachbeschädigung.
Hinzukommen die Straftaten des laufenden Strafverfahrens:
– Gewalt und Drohung gegen Beamte;
– Beschimpfung.

Die Frage ist also, ob diese Delikte die Schwere erreichen, damit die erkennungsdienstliche Erfassung angeordnet werden kann. Ob es sich bei den Delikten um Offizial- oder Antragsdelikte handelt, spielt gemäss der neueren Rechtsprechung keine Rolle. Zur Beurteilung der Schwere ist das betroffene Rechtsgut und der konkrete Kontext miteinzubeziehen. Eine präventive erkennungsdienstliche Erfassung erweist sich insbesondere dann als verhältnismässig, wenn die besonders schützenswerte körperliche bzw. sexuelle Integrität von Personen bzw. unter Umständen auch das Vermögen (Raubüberfälle, Einbruchdiebstähle) bedroht ist. Es müssen mithin ernsthafte Gefahren für wesentliche Rechtsgüter drohen (E. 4.3).

Gemäss dem Bundesgericht weisen sämtliche vergangenen sowie die angezeigten Delikte im hängigen Verfahren Bagatellcharakter auf und erreichen die geforderte Deliktsschwere nicht. Auch fehlen Anhaltspunkte für künftige schwere Delikte. Die erkennungsdienstliche Erfassung war damit unverhältnismässig. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Anspruch auf Übersetzung

BGE 6B_1140/2020: „Das versteh ich nich…“ (gutgh. Beschwerde)

Wegen div. Widerhandlungen gegen das SVG erhielt der Beschwerdeführer von der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau einen Strafbefehl. Mangels Verständnis fragte der in Genf wohnende und aufgewachsene Beschwerdeführer nach einer Übersetzung. Rund 19 später erhob er Einsprache. Die kantonalen Behörden betrachteten die Einsprache als verspätet. Vor Bundesgericht stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass der Strafbefehl zumindest teilweise hätte übersetzt werden müssen.

Gemäss Art. 68 Abs. 2 StPO hat die beschuldigte Person, auch wenn sie verteidigt wird, Anspruch darauf, dass der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen in einer ihr verständlichen Sprache mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht werden. Bei Strafbefehlen sind nach der Rechtsprechung zumindest das Dispositiv und die Rechtsmittelbelehrung zu übersetzen. Dabei wird aber je Einzelfall auf die tatsächlichen Sprachkenntnisse der beschuldigten Person abgestützt. Man hat also nicht per se einen Anspruch auf Übersetzung (zum Ganzen E. 1.1).

Der Beschwerdeführer ist französischer Muttersprache und wohnt in Genf. Die kantonalen Behörden haben sich nie ein Bild von seinen Sprachkenntnissen gemacht. Die Vorinstanz ging davon aus, dass jeder genug Deutsch könne wegen der obligatorischen Schulausbildung. Dies war aber nur Spekulationen, zumal der Beschwerdeführer mehrmals auf seine fehlenden Deutschkenntnisse hinwies. Er wurde auch nicht im Kanton Bern, sondern rechtshilfeweise in Genf einvernommen. Aus der fehlenden Übersetzung und der deshalb verspäteten Einsprache darf damit dem Beschwerdeführer kein Rechtsnachteil erwachsen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Kompetenz des Einzelrichters im Strafverfahren

Strassenverkehrsgesetz bedeutet oftmals auch Strafprozessrecht, weshalb wir hier manchmal auch auserlesene StPO-Entscheide posten. Der Sachverhalt beginnt sodann auch sehr autofahrerisch, denn der Beschwerdeführer wurde wiederholt wegen massiven SVG-Widerhandlungen (FiaZ, Vereitelung, Pflichwidriges Verhalten, Strolchenfahrt usw.) verurteilt, zuletzt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 16 Monaten, Geldstrafe und Busse, wobei zugleich eine frühere Freiheitsstrafe von 30 Monaten für vollziehbar erklärt wurde. Sowohl der Beschwerdeführer, als auch die Staatsanwaltschaft gingen in Berufung und brachten vor, dass der Einzelrichter seine Kompetenz überschritten habe. Es geht also um die sachliche Zuständigkeit des Einzelgerichts.

Gemäss Art. 19 Abs. 2 StPO können Bund und Kantone als erstinstanzliches Gericht ein Einzelgericht vorsehen für die Beurteilung von (a) Übertretungen; (b) Verbrechen und Vergehen, mit Ausnahme derer, für welche die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, eine Verwahrung nach Artikel 64 StGB, eine Behandlung nach Artikel 59 Absatz 3 StGB oder, bei gleichzeitig zu widerrufenden bedingten Sanktionen, einen Freiheitsentzug von mehr als zwei Jahren beantragt.

Nur sieben Kantone räumen ihren Einzelrichtern die Kompetenz ein, bis zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zu richten. Im den Sachverhalt betreffenden Kt. SO liegt die Kompetenz bei 18 Monaten (zum Ganzen E. 2.5). Daraus schliesst das Bundesgericht, dass die meisten Kantone die Kompetenzen der Einzelrichter als zu weit gehend einschätzen, denn das sei aus rechtstaatlicher Sicht bedenklich (E. 2.6). Dieses vermutete Unbehagen gegenüber einer allfällig zu weiten Kompetenz des Einzelrichters bezeichnet das BGer als nachvollziehbar. Das im Gremium gefällte Urteil wird von den Richtern beraten, was die Qualität des Spruches erhöht. Ein Urteil durch ein Kollegialgericht werde auch besser akzeptiert (E. 2.7). Daraus schliesst das BGer, dass Art. 19 Abs. 2 StPO restriktiv ausgelegt werden muss. Bei der Dauer der Sanktion muss aus diesen Gründen auch eine zu wiederrufende bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug miteinberechnet werden (E. 2.8).

Vorliegend auferlegte der Einzelrichter dem Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten. Zugleich hob er die im letzten Strafverfahren angeordnete anbulate Behandlung auf, womit die dort ausgesprochene Freheitsstrafe von 30 Monaten ebenfalls vollziehbar wurde. Insgesamt befand der Einzelrichter damit über eine Freiheitsstrafe von 46 Monaten, wofür er aber sachlich nicht zuständig war. Er hätte die Sache an das zuständige Gericht überweisen müssen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Überwachungsvideo als Beweis

BGE 6B_1288/2019: Beweisverwertung (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, in Basel bei der Synagoge den Vortritt einer Velofahrerin missachtet zu haben. Die Velofahrerin verletzte sich leicht bei ihrem Notbremsmanöver. Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Videoaufnahme der privaten Videoüberwachungsanlsage der Synagoge, mit welcher der Vorfall gefilmt wurde, nicht als Beweis zugelassen werden darf, solange dieser Beweis ihn belastet. Sofern die Aufnahme allerdings entlastend ist, sollte die Aufnahme verwertbar sein. Die Vorinstanz erachtete die Aufnahme als verwertbar, auch wenn für sie das nach kantonalem Recht notwendige Reglement nicht vorlag. Diese Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift sei jedoch nur marginal und die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers seien durch die Aufnahme nur wenig tangiert worden.

Beweise, die unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, dürfen nur für die Aufklärung schwerer Straftaten verwertet werden. Ansonsten ist die Verwertung solcher Beweise gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO illegal. Das gilt auch für die Folgebeweise. Je schwerer eine Straftat ist, desto höher ist auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung bzw. an der Verwertung eines illegal erhobenen Beweises. Die Schwere Straftat beurteilt sich dabei nicht am abstrakt angedrohten Strafmass, sondern am konkreten Einzelfall (E. 2.1).

Die israelitische Gemeinde Basel und Inhaberin der Videoanlage ist eine öffentliche-rechtliche Körperschaft und unter gewissen Umständen zur Rechtshilfe verpflichtet. Allerdings gilt auch hier, dass die Grundsätze des rechtstaatlichen Handelns eingehalten werden müssen, was bedeutet, dass die Strafbehörden die Beweiserhebung nicht einfach an andere staatliche Organe outsourcen darf (E. 2.2).

Videoüberwachung tangiert das Recht auf Privatssphäre der gefilmten Person (Art. 13 BV). Persönliche Daten sind vor Missbrauch geschützt. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Schutz der Privatsphäre erfasst auch Lebenssachverhalte die sich im öffentlichen Raum abspielen. Man muss sich nicht stets beobachtet fühlen. Alle Grundrechte können allerdings im Rahmen von Art. 36 BV in verhältnismässiger Weise eingeschränkt werden. „Es ist jedenfalls nicht angebracht mit dem Schlagwort der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbeschränkte Überwachungen zu begründen, die in vielfältigsten Ausgestaltungen unterschiedlichen Zwecken dienen können“ (E. 2.3).

Nach kantonaler Gesetzgebung bedürfen Videoüberwachungsanlagen in Basel ein Reglement, das Zweck, Verantwortlichkeit und die Löschzyklen regelt. Ein solches Reglement bestand aber nicht. Die Videoaufnahme erfolgte in gesetzeswidriger Weise (E. 2.4f).

Zudem wird dem Beschwerdeführerkein schweres Delikt vorgeworfen. Zwar wird eine Vortrittsmissachtung vorgeworfen, eine Kollision gab es aber nicht. Einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind nach der Rechtsprechung keine schweren Straftaten im Sinne der Strafprozessordnung. Die Videoaufnahme wurde zu Unrecht verwertet (E. 2.6).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Vorsicht Meinung: Die Strafhoheit liegt beim Staat und Verbotenes sollte grds. auch bestraft werden. Es ist deshalb besonders wichtig, dass der Staat die Regeln einhält. Würde man den Strafbehörden die Möglichkeit geben, jeden erdenklichen Beweis zu verwerten, dann wären bald nur noch Hobbypolizisten und Sheriffs unterwegs. Ausgerüstet mit Dashcams und Kameras würde sich die Zivilgesellschaft gegenseitig bespitzeln. Krumm und krümmer würden die Methoden, mit welchen der ungeliebte Nachbar bei den Strafbehörden angeschwärzt wird. Es ist deshalb gut, dass das Bundesgericht hier noch Augenmass beweist und sich Orwell noch nicht im Grab umdrehen muss.

Parteientschädigung

BGE 6B_950/2020: Entschädigung vom Anwalt (guth. Beschwerde)

Das gegen den Beschwerdeführer eröffnete Strafverfahren wegen mangelnder Aufmerksamkeit wurde auf Einsprache hin eingestellt. Vorgeworfen wurde ein Blick auf ein Blatt Papier. Die Staatsanwaltschaft sprach keine Parteientschädigung zu. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde gutgeheissen. Allerdings erachtete sie für das Beschwerdeverfahren eine Entschädigung von CHF 750.00 als ausreichend und kürzte damit die Honorarnote von CHF 1’061.50. Im Beschwerdeverfahren selber wurde eine Parteientschädigung von CHF 200.00 gesprochen. Vor Bundesgericht verlangt der Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 900.00 für das Beschwerdeverfahren.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 436. Abs. 1 i.V.m. Art. 429 Abs. 1 StPO. Obwohl er im Rechtsmittelverfahren überwiegend obsiegte, sei die Parteientschädigung von CHF 200.00 unangemessen tief. Gemäss kantonaler Gesetzgebung betrage der Entschädigungsrahmen CHF 250.00 bis 6’000.00. Die Beschwerde hatte fünf Seiten. Selbst ein erfahrener Strafverteidiger könne eine solche Eingabe nicht in weniger als einer Stunde verfassen. Die Entschädigungsfrage folgt zudem grds. dem Kostenentscheid. Die Verfahrenskosten wurde auf die Staatskosten genommen, weshalb von einem überwiegenden Obsiegen auszugehen ist. Zudem war die Verteidigung geboten (E. 2.1).

Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass es nur um eine Übertretung ging und der Sachverhalt nicht komplex war. Auch hätten sich keine rechtlich komplexen Fragen gestellt. Trotzdem erachtete sie den Beizug des Anwaltes als gerechtfertigt. Die tiefe Parteientschädigung im Rechtsmittelverfahren rechtfertigt die Vorinstanz mit einer Milchbüchlirechnung. Für das Einspracheverfahren wurden CHF 750.00 anstatt CHF 1’061.50 zugesprochen, also habe der Beschwerdeführer etwa zu 71% gesiegt, also überwiegend aber nicht vollumfänglich E. 2.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht auch bei blossen Übertretungen ein Anspruch auf Entschädigung für Anwaltskosten, wenn der Rechtsanwalt erst nach Ergehen eines Strafbefehls beigezogen wurde und die Übertretung von der Staatsanwaltschaft daher mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt wurde. Der Aufwand für eine angemessene Verteidigung richtet sich nach jenem, den ein erfahrener Strafverteidiger bei effizienter Arbeitserledigung benötigt (E. 2.3.1).

Das Bundesgericht schreitet nur ein, wenn der Ermessensspielraum klarerweise überschritten wurde und die Festsetzung des Honorars ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu den vom Anwalt geleisteten Diensten steht und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstösst (E. 2.3.2). Bei schuldhaftem Einleiten eines Strafverfahren (z.B. Selbstanzeige) kann die Entschädigung oder Genugtuung herabgesetzt oder verweigert werden. Der Kostenentscheid präjudiziert die Entschädigungsfrage. Bei Auferlegung der Kosten ist grundsätzlich keine Entschädigung auszurichten. Umgekehrt hat die beschuldigte Person Anspruch auf Entschädigung, soweit die Kosten von der Staatskasse übernommen werden (E. 2.3.3).

Im folgenden prüft das BGer, ob das kantonale Recht durch die Vorinstanz willkürlich angewendet wurde. Dies ist der Fall, wenn wenn das angefochtene Urteil offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (E. 2.3.6).

Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht und verfällt in Willkür. Das Strafverfahren wurde eingestellt und die Kosten auf die Staatskasse genommen. Die Zusprechung einer vollen Parteientschädigung wäre sachgerecht gewesen. Obwohl die Vorinstanz die Parteientschädigung des Einspracheverfahrens kürzte, erkannte sie selber, dass der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren überwiegend reüssierte, denn die Frage drehte sich hauptsächlich darum, ob eine anwaltliche Vertretung geboten war. Die Entschädigung im Beschwerdeverfahren bezeichnet das Bundesgericht als unhaltbar tief. Zudem hat die Vorinstanz ihre Begründungspflicht verletzt, weil sie eher pauschal auf die kantonale Gesetzgebung verweist (E. 2.4).

Ne bis in idem

BGE: 6B_514/2020: Doppelte Beurteilung eines Lebenssachverhaltes

Der Grundsatz „ne bis in idem“ ist wesentlich für den Strafprozess. Der Sachverhalt hat zwar nichts mit Autofahren zu tun, aber man könnte sich ein solche Auseinandersetzung durchaus auch im Feierabendverkehr an einem heissen Sommerabend vorstellen, bei welchem jemandem die Sicherung durchgehen.

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen Tätlichkeit und Gefährdung des Lebens, weil er gegen seine ehemalige Gattin Gewalt ausübte. Zunächst hielt er sie an den Oberarmen und stiess sie gegen einen Schrank, was als Tätlichkeit gewertet wurde. Sodann packte der Beschwerderführer die Geschädigte von hinten und nahm sie in einen Würgegriff bis sie ohnmächtig wurde. Dies wurde als Gefährdung des Lebens gewertet.

Das erstinstanzliche Gericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Tätlichkeiten, vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens aber wurde er freigesprochen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung. Die Berufungsinstanz stellte fest, dass der Freispruch wegen dem Würgen bzw. der Gefährdung des Lebens in Rechtskraft erwachsen ist. Zugleich sprach es ihn wegen den Tätlichkeiten bzgl. dem Stossen frei, verurteilte ihn aber für das Würgen wiederum wegen einer Tätlichkeit.

Der Beschwerdeführer macht in seiner Beschwerde geltend, dass die Vorinstanz den zweiten Sachverhaltsteil, also das Würgen, nicht nochmals habe beurteilen dürfen, denn der Freispruch diesbzgl. erwuchs bereits in Rechtskraft. Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass das Gericht erster Instanz das Würgen nicht nur als Gefährdung des Lebens, sondern auch als Tätlichkeit würdigte (E. 1.1/2).

Ein Urteil muss die Anklage durch die Staatsanwaltschaft erschöpfend erledigen. Das beurteilt sich anhand einem Vergleich von Anklage und Urteilsdispositiv. Wird diese durch die Verurteilung nicht ausgeschöpft, hat eine Einstellung oder ein Freispruch zu ergehen. Kein Freispruch hat zu erfolgen, wenn im Falle von  Tateinheit (in der Anklage) nicht wegen aller Delikte eine Verurteilung erfolgt. Das Urteil kann bei ein und derselben Tat nur einheitlich auf Verurteilung oder Freispruch lauten. Würdigt das Gericht den Anklagesachverhalt lediglich rechtlich anders als die Anklagebehörde und behandelt diesen vollständig, erfolgt kein Freispruch. Hingegen hat bei  Tatmehrheit (in der Anklage) ein Freispruch zu erfolgen, soweit es nicht zur Verurteilung oder Einstellung kommt (E. 1.3.2).

Der in Art. 11 StPO stipulierte Grundsatz „ne bis in idem“ verbietet die doppelte Bestrafung bzw. Verfolgung derselben Straftat. Tatidentität liegt vor, wenn dem ersten und dem zweiten Strafverfahren identische oder im Wesentlichen gleiche Tatsachen zugrunde liegen (E. 1.3.3).

Wird die beschuldigte Person teilweise freigesprochen, obwohl hier wegen Tateinheit kein Raum besteht und erwächst dieser Freispruch in Rechtskraft, lässt dessen Sperrwirkung eine Verurteilung wegen des gleichen Lebenssachverhalts nicht zu (E. 1.3.4).

Nach Ansicht des Bundesgerichts liegt es zwar nahe, dass das Gericht erster Instanz sowohl das Stossen, als auch das Packen und Würgen als Tätlichkeit würdigte. Der Vorwurf in der Anklage des „von hinten Packen und Würgen“ umschreibt allerdings einen einzelnen Lebensvorgang. Es war insofern nicht möglich, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer wegen derselben Tat einerseits freispricht (Gefährdung des Lebens) und andererseits zugleich bestraft (Tätlichkeit). Hätte das erstinstanzliche Gericht das Würgen abweichend von der Staatsanwaltschaft rechltich als Tätlichkeit würdigen wollen, hätte sie den Beschwerdeführer nicht freisprechen dürfen. Indem die Berufungsinstanz das Würgen trotz rechtskräftigem Freispruch als Tätlichkeit bestraft verletzt sie den Grundsatz „ne bis in idem“ (E. 1.4).

Mündliches Berufungsverfahren

BGE 6B_973/2019: Die zerkratzten Autos

Strassenverkehrsreicht heisst auch immer Straf(prozess)recht, weshalb hier auch manchmal StPO-Entscheide gefeatured werden. Zudem dreht sich der Sachverhalt um das zerkratzen von Autos mit einem Schlüssel oder sog. „keying“, weshalb das thematisch ganz gut passt.

Der Beschwerdeführerin wird vorgeworfen, in einer Tiefgarage mit einem Schlüssel zwei Autos zerkratzt zu haben. Die Anklage stützt sich auf die Aufnahme einer privaten Videoüberwachungsanlage. Vom erstinstanzlichen Gericht wurde die Beschwerdeführerin vom Vorwurf der Sachbeschädigung freigesprochen, vom Obergericht allerdings wiederum verurteilt. Die Beschwerdeführerin moniert vor Bundesgericht, dass keine mündliche Berufungsverhandlung durchgeführt wurde.

Im Berufungsverfahren setzte das Obergericht AG den Parteien Frist zur Mitteilung, ob diese mit einem schriftlichen Verfahren gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO einverstanden seinen, wobei keine Äusserung als verzicht gewertet werde. Während die Staatsanwaltschaft explizit auf ein mündliches Verfahren verzichtete, äusserte sich die Beschwerdeführerin nicht (E. 2.1).

Die Berufung ist das primäre Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile und als mündliches, kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet. Grundsätzlich ist also die Anwesenheit der Parteien erforderlich, sofern kein einfaches Verfahren gemäss Art. 405 Abs. 2 StPO vorliegt (E. 2.1). Schriftliche Berufungsverfahren bilden nach dem gesetzgeberischen Willen die Ausnahme. Unabhängig vom Willen der Parteien kann ein schriftliches Berufungsverfahren in den in Art. 406 Abs. 1 StPO stipulierten Fällen durchgeführt werden. In den Fällen von Art. 406 Abs. 2 StPO kann ein schriftliches Verfahren mit dem Einverständnis der Parteien durchgeführt werden, also wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht erforderlich ist (lit. a) und wenn Urteile eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind (lit. b). Die beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (E. 2.2.2). Die Zustimmung zum schriftlichen Verfahren tritt als weitere Voraussetzung hinzu. Ob die Voraussetzungen für das schriftliche Verfahren vorliegen, muss die Berufungsinstanz von Amtes wegen prüfen (E. 2.2.3). Zudem muss das Gericht über alle für den Schuld- und Strafpunkt erforderlichen Informationen und Nachweise verfügen (E. 2.2.4).

Art. 406 StPO ist als „Kann-Vorschrift“ ausgestaltet. Das Berufungsgericht muss deshalb auch prüfen, ob der Verzicht auch eine öffentliche Verhandlung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. In einem fairen Strafverfahren hat man grds. Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (E. 2.3.1). Gemäss der Rechtsprechung des EGMR muss nicht in jedem Fall ein mündliches Verfahren stattfinden. Lässt sich – kurz gesagt – ein Fall anhand der Akten beurteilen, ist eine mündliche Verhandlung nicht nötig. Hebt die Berufungsinstanz allerdings das erstinstanzliche Urteil auf, so ist die beschuldigte Person zu hören. Diese ist grds. von jenem Gericht anzuhören, welches sie verurteilt (zum Ganzen E. 2.3.2).

Vorliegend waren die Voraussetzungen für ein schriftliches Verfahren nicht erfüllt. Zwar darf die Berufungsinstanz davon ausgehen, dass die beschuldigte Person mit dem schriftlichen Verfahren einverstanden ist, wenn sie nicht ausdrücklich eine mündliche Verhandlung wünscht. Allerdings war die Anwesenheit der beschuldigten Person erforderlich. Die Beschwerdeführerin bestritt den Vorwurf der Sachbeschädigung von Beginn weg und wurde von der ersten Instanz in dubio freigesprochen. Das erstinstanzliche Gericht erachtete die Videoaufnahmen als zu schlecht. Die Berufungsinstanz allerdings würdigte die Beweise anders und erachtete den Sachverhalt anhand des Videos als erstellt, ohne die beschuldigte Person je angehört zu haben. Damit hat sie die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise auf ein blosses Objekt staatlichen Handens reduziert. Die Berufungsinstanz hätte die beschuldigte Person zu den Vorwürfen befragen müssen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Edit vom 11.4.2021: BGE 6B_1349/2020: Mündliches Berufungsverfahren

Auch in dieser gutgeheissenen Beschwerde ging es um die Frage, ob von der Vorinstanz zu Recht ein schriftliches Berufungsverfahren angeordnet wurde. Das schriftliche Verfahren kommt v.a. dann in Frage, wenn Rechtsfragen beurteilt werden oder wenn Tatfragen einfach anhand der Akten beurteilt werden können. Geht es aber um die Würdigung des Sachverhalts, dann sollte eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden. In diesem Urteil stimmte die beschuldigte Person zwar dem schriftlichen Verfahren zu, da aber der Sachverhalt umstritten war, hätte die Vorinstanz von Amtes wegen eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, was sie aber nicht tat.