Staatshaftung nach Unfall bei Führerprüfung?

BGE 2C_94/2018: Haftet der Staat für einen Unfall bei der Führerprüfung?

Das BGer musste in diesem Entscheid die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung beantworten, ob der Staat haftet, wenn an während der Führerprüfung, bei welcher ein Prüfungsexperte mitfährt, ein Unfall geschieht.

Im vorliegenden Fall konnte der Prüfungsexperte trotz Betätigung der Doppelbremspedale die Kollision des Probanden mit einem Verkehrsschild nicht mehr verhindern. Am Prüfungswagen der Fahrschule und Beschwerdeführerin und dem Verkehrsschild entstand ein Sachschaden von CHF 1’946.75, welchen die Fahrschule vom Staat zurückfordert.

E. 3. zur kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzgebung: Das BGer stimmt der kantonalen Instanz zu, dass dem Prüfungsexperten kein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden kann, womit die Voraussetzungen des Haftungsgesetzes bzw. §75 der Kantonsverfassung nicht erfüllt sind. Die Vorinstanz hat den Sachverhalt nicht willkürlich gewürdigt. Diese ging letztlich davon aus, dass ein Fehler des Fahrlehrers nicht beweisbar war.

E. 4. zur Rechtsfrage: Die Beschwerdeführerin moniert, dass bei Führerprüfungen regelmässig ein Beweisnotstand zu Lasten der Fahrschulen herrsche, weil kaum je eine Drittperson bei der Führerprüfung dabei ist. Damit werde die Staatshaftung ausgehebelt und Fahrschulen müssen die entstandenen Schäden zumeist selber tragen.  Die Beschwerdeführerin fordert analog zu Art. 71 SVG eine Erweiterung des Halterbegriffes auf den Staat während Führerprüfungen, damit sich der Staat mangels Beweisen nicht von der Haftung drücken kann.

Bund und Kantone unterstehen als Halter von Motorfahrzeugen den Haftpflichtbestimmungen des SVG (vgl. Art. 73 SVG). Grds. haftet der Halter eines Fahrzeuges für Personen- oder Sachschaden (vgl. Art. 58 SVG). Die Halterhaftung ist allerdings ausgeschlossen bzw. das Obligationenrecht anwendbar bei der Haftungsfrage im Verhälntis zwischen Halter und dem Eigentümer eines Fahrzeuges für Schaden an diesem Fahrzeug (vgl. Art 59 Abs. 4 lit. a SVG). Insofern bestünde keine Haftung des Staates gemäss Art. 58 SVG für den Schaden am Prüfungsfahrzeug, auch wenn der Staat als Halter gelten würde (E. 4.1. und 4.2.).

Der Staat müsste als Halter aber für das beschädigte Strassenschild haften. Grds. gilt im SVG der materielle Halterbegriff, d.h. Halter ist nicht derjenige, der im Fahrzeugausweis eingetragen ist (also der formelle Halter), „sondern derjenige, auf dessen eigene Rechnung und Gefahr der Betrieb des Fahrzeugs erfolgt und der zugleich über dieses und allenfalls über die zum Betrieb erforderlichen Personen die tatsächliche, unmittelbare Verfügung besitzt. Nach dem Interessen- oder Utilitätsprinzip soll die kausale Haftung aus einer Gefährdung insbesondere tragen, wer den besonderen, unmittelbaren Nutzen aus dem gefährlichen Betrieb hat.“ „Hingegen ist jemand, dem ein Fahrzeug freiwillig nur zum gelegentlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, ohne dass er Betriebskosten zu tragen hätte, nicht Halter.“

Auch wenn der Prüfungsexperte nach Art. 15 Abs. 2 SVG für eine gefahrlose Lernfahrt zu sorgen hat, erfolgt die Prüfungsfahrt hauptsächlich im Interesse des Probanden bzw. im kommerziellen Interesse der Fahrschule. Die (mind.) 60-minütige Prüfungsfahrt begründet beim Staat im Lichte der Rechtsprechung keine Haltereigenschaft (E. 4.3.2.).

Auch Art. 71 SVG ist nicht auf die Prüfungssituation anwendbar, da der Staat kein Unternehmer im Mororfahrzeuggewerbe ist und auch keine Arbeiten am Fahrzeug selbst durchführt (E. 4.4.).

E. 4.5. Gesetzeslücke: Zum Schluss stellt sich das BGer die Frage, ob hier eine Gesetzeslücke besteht, die gefüllt werden muss. „Eine echte Gesetzeslücke liegt vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann“ (E. 4.5.1.).

Nur weil das Ergebnis einer Haftungsfrage ungewöhnlich ist, besteht noch keine Lücke im Gesetz. Nach dem Grundsatz „casum sentit dominus“ trägt der Eigentümer grds. die Schäden an seiner Sache. Es gibt keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass für jeden eingetretenen Schaden irgend jemand haften muss. Es ist rechtsstaatlich nicht unhaltbar, dass in der vorliegenden Konstellation die Fahrschule den Schaden selber tragen muss. Es besteht kein Anlass für eine Staatshaftung via Lückenfüllung (E. 4.5.2.).

 

 

 

Exkurs Versicherungsrecht

Autofahrer müssen sich auch immer mit Versicherungen herumschlagen. Das Gesetz schreibt eine obligatorische Haftpflichtversicherung vor (vgl. Art. 63 SVG). Aus dem Versicherungsvertragsverhältnis ergeben sich teilweise weitreichende Folgen für die Autofahrer, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen.

BGE 4A_104/2018: Anzeigepflichtsverletzung, Frist nach Art. 6 Abs. 2 VVG

Um eine Motorfahrzeugversicherung abzuschliessen, stellt der Autofahrer einen Antrag bei der Versicherung, in welchem er div. Fragen beantworten muss, z.B. „Waren Sie schon einmal versichert?“ oder „Hatten Sie bereits frühere Schadenfälle?“. Eine falsche Antragsdeklaration wird oft als „Kavaliersdelikt“ betrachtet oder erfolgt gar aus Unachtsamkeit. Doch kann sie insb. im Schadenfall ungünstige Konsequenzen haben, wenn die Versicherung aufgrund falscher Antragsdeklaration vom Vertrag zurücktritt und allfällige Leistungen verweigert oder vom Autofahrer zurückfordert. Die Versicherung kann innert vier Wochen vom Vertrag zurücktreten, nachdem Sie von der Verletzung der Anzeigepflicht Wind bekommen hat. Das BGer beantwortet im obigen Entscheid, wann diese vier Wochen beginnen.

E. 2.1.: Die Frist beginnt erst zu laufen, wenn der Versicherer zuverlässige Kunde von den Tatsachen erhält, aus denen sich der sichere Schluss auf eine Verletzung der Anzeigepflicht ziehen lässt; blosse Vermutungen, die zu grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit drängen, dass die Anzeigepflicht verletzt ist, genügen nicht. Der Versicherer muss vollständig über alle Punkte orientiert sein, welche die Verletzung der Anzeigepflicht betreffen, d.h. er muss darüber sichere, zweifelsfreie Kenntnis erlangt haben. Grds. müssen Urkunden vorliegen.

Im vorliegenden Fall hat die Versicherung zunächst telefonisch von der früheren Versicherung der Beschwerdeführerin Details erhalten, welche auf eine falsche Antragsdeklaration hindeuteten. Später erfolgte die schriftliche Bestätigung der früheren Versicherung. Erst mit dieser verfügte die aktuelle Versicherung über sichere und zuverlässige Kenntnis der Anzeigepflichtsverletzung. Ab dem Erhalt dieser schriftlichen Bestätigung lief demnach die vierwöchige Frist und nicht schon ab der telefonischen Kenntnisnahme.

 

BGE 4A_20/2018: Der betrügerische Versicherungsanspruch, Art. 40 VVG

Mal kurz ein Streichholz in den Tank der alten Karre und schon hat man Fersengeld fürs neue Leasingfahrzeug. Versicherungsbetrug ist in Mode, doch wann darf eine Versicherung ihre Leistungen verweigern bzw. wann liegt ein betrügerischer Versicherungsanspruch vor?

E. 2.5. zum Verhältnis zum StGB: Die Tatbestände von Art. 40 VVG und Art. 146 StGB sind nicht deckungsgleich. „Einerseits gelten für den strafrechtlichen Betrug gemäss Art. 146 StGB andere Voraussetzungen als für die betrügerische Begründung des Versicherungsanspruchs im Sinne von Art. 40 VVG. Trotz des Ausdrucks „betrügerisch“ im Marginale ist Art. 40 VVG ausschliesslich nach zivilrechtlichen Kriterien zu beurteilen (Urteil 4A_382/2014 vom 3. März 2015 E. 5.4 mit Hinweisen). So fällt insbesondere das Element der Arglist weg und es gilt das wesentlich weniger strikte Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu E. 3.1).“

E. 3. zum Tatbestand von Art. 40 VVG: Liegt ein betrügerischer Anspruch vor, kann die Versicherung die Leistung verweigern und vom Vertrag zurücktreten. „In objektiver Hinsicht liegt eine betrügerische Begründung des Versicherungsanspruchs im Sinne von Art. 40 VVG vor, wenn die Anspruchsstellerin Tatsachen wahrheitswidrig darstellt, die für den Versicherungsanspruch Bedeutung haben. Es genügt dabei ein Verhalten, welches objektiv eine Irreführung der Versicherung bewirken kann. Unter Art. 40 VVG fällt u.a. das Ausnützen eines Versicherungsfalls durch Vortäuschen eines grösseren Schadens.“ Subjektiv ist eine Täuschungsabsicht gefordert. Die anspruchstellende Person muss mit Wissen und Willen falsche Angaben machen, um einen Vermögensvorteil zu erlangen. Dies kann auch im Ausnützen eines Irrtums der Versicherung bestehen, wenn der wahre Sachverhalt verschwiegen oder absichtlich zu spät informiert wird (vgl. E. 3.2.2.). Die Beweislast liegt dabei bei der Versicherung. Es gilt das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.

E. 4.1. zur Rückabwicklung des Vertrages: Fällt der Vertrag dahin, weil die Versicherung von diesem zurücktritt, schuldet die anspruchsstellende Person das negative Vertragsinteresse. Die Versicherung ist so zu stellen, als hätte es den Vertrag nie gegeben. Deshalb kann die Versicherung sämtliche Kosten, die zur Abklärung des betrügerischen Anspruches nötig waren, zurückfordern.

Versicherungen sind ausserordentlich gut im Aufdecken von Betrugsfällen, haben dieser Aufgabe gar ganze Abteilungen gewidmet. Insofern lässt man die Streichhölzer lieber im Hosensack und kurvt halt noch mit der alten Schwarte rum.

Von Rasern und Süchten

BGE 6B_567/2017: Raserurteil (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer überholte ausserorts bei starkem Nebel und vor einer Rechtskurve zwei Autos mit mind. 133km/h. In der Folge kam es auf der Gegenfahrbahn zu einer Frontalkollision, wobei zwei Insassen des korrekt entgegenkommenden Autos getötet wurden. Zwei weitere sowie der Beschwerdeführer wurden schwer verletzt. In den kantonalen Instanzen wurde der Beschwerdeführer wegen eventualvorsätzlicher Tötung und schwerer Körperverletzung sowie dem Rasertatbestand zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer verlangt vor BGer die Verurteilung wegen fahrlässiger Tatbegehung.

E. 2.1.1. zu (Eventual)Vorsatz, (bewusster) Fahrlässigkeit

E. 2.1.2. von der bewussten Fahrlässigkeit zum Eventualvorsatz: „Ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung im Sinne des Eventualvorsatzes in Kauf genommen hat, muss das Gericht bei Fehlen eines Geständnisses aufgrund der Umstände entscheiden. Dazu gehören die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung, die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung, die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Das Gericht darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 mit Hinweis).“

„Ein Fahrzeuglenker droht durch sein gewagtes Fahrverhalten meistens selbst zum Opfer zu werden. Die Annahme, er habe sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden und nicht im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf deshalb nicht leichthin angenommen werden (BGE 130 IV 58 E. 9.1 mit Hinweisen). Bei Unfällen im Strassenverkehr kann nicht ohne Weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr nur mit Zurückhaltung und in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass der Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat (BGE 133 IV 9 E. 4.4). “

E. 2.2. zum Sachverhalt: Das Überholmanöver des Beschwerdeführers war dermassen irrsinnig, dass weder er, noch der entgegenkommende Lenker den Unfall durch rechtzeitige Reaktion hätten vermeiden können. Als Junglenker, der seit erst vier Monaten den Führerausweis hatte, durfte der Beschwerdeführer auch nicht auf sein Fahrgeschick vertrauen. Nur der Zufall hätte den Unfall verhindern können. Der tatbestandsmässige Erfolg drängte sich derart auf, dass von einer Inkaufnahme seitens des Beschwerdeführers ausgegangen werden muss, umso mehr, weil er die Strecke kannte.

E. 3. Zum Rasertatbestand: Zwar wird die qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung von dem Tatbestand der vorsätzlichen Tötung konsumiert. Zur Erfüllung des Rasertatbestandes reicht aber bereits eine erhöht abstrakte Gefährdung, eine konkrete ist nicht vorausgesetzt. Der Tatbestand zählt beispielhaft „waghalsiges Überholen“ als Tathandlung auf und fordert ein hohes Risiko. Gegenüber den Überholten Fahrzeugen bestand eine erhöht abstrakte Gefährdung und ein hohes Risiko, dass sie in den Unfall hätten involviert werden können. Insofern ist auch der Rasertatbestand erfüllt.

E. 4. Zur Strafzumessung: Lediglich in diesem Punkt heisst das BGer die Beschwerde gut und weist die Sache an die Vorinstanz zurück. 8 Jahre Freiheitsentzug sind zuviel.

Der BGE schliesst nahtlos an BGE 6B_1050/2017 an, in welchem ebenfalls ein Schuldspruch wegen vorsätzlicher Tötung durch Überholen im Nebel erfolgte.

 

BGE 1C_701/2017: Ne gute Repetition zum Alkoholgenuss (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Entscheid fasst die Rechtsprechung zur Fahreignung bzgl. Alkohol gut zusammen. Der Beschwerdeführer wurde nach einer FiaZ-Fahrt zur Fahreignungsabklärung aufgeboten. Die Haaranalyse wies einen EtG-Wert von 57pg/mg auf, woraufhin die KAM vom Kt. FR einen Sicherungsentzug verfügte. Das BGer weist die Beschwerde gegen diese Verfügung ab.

E. 2. zum Sicherungsentzug:

Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen fürs Autofahren gemäss Art. 14 SVG nicht mehr bestehen, muss die Fahrerlaubnis entzogen werden. Werden im Administrativverfahren Sicherungsmassnahmen zugunsten der Verkehrssicherheit verfügt, gilt die Unschuldsvermutung nicht (E. 2.1.). Eine Trunksucht liegt grds. vor, wenn zwischen Konsum und Autofahren nicht mehr getrennt werden kann (E. 2.2). Ein EtG-Wert bei der Haaranalyse von mehr als 30 pg/mg gilt als nicht mehr sozialverträglich und damit übermässig (E. 2.3.1.). Von der Haaranalyse wird nur abgewichen, wenn das die Glaubwürdigkeit des Gutachten ernsthaft erschüttert ist (E. 2.3.2.).

E. 3. Zum Gutachten:

Die Haaranalyse ist mit einer Messunsicherheit von 30% behaftet (E. 3.1.). Ein Gutachten darf nicht ausschliesslich auf dem EtG-Wert abstellen, sondern muss auch die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen beachten (E. 3.2.).

Da im vorliegenden Fall das Gutachten die Voraussetzungen der Rechtsprechung erfüllte, war der Sicherungsentzug berechtigt.

Die Kaskade fällt

BGE 4A_602/2017, Regressmöglichkeit des aus Vertrag leistenden Versicherers (Praxisänderung)

Nach dem Sturz einer Passagierin in einem Bus, bezahlte deren private Krankenversicherung Zusatzleistungen von mehr als CHF 30k. In der Folge verlangte die Schadenversicherung von der Haftpflichtversicherung der Busbetriebe die Zahlung dieser Leistung im Rahmen eines Regresses und in Abänderung von BGE 137 III 352, in welchem das BGer entschied, dass der aus Vertrag leistende Versicherer auf einen kausal Haftenden bzw. dessen Versicherung keinen Rückgriff nehmen kann.

E. 2.1. zu BGE 137 III 352

E. 2.2. zur Lehre

E. 2.3ff. zu den Gründen für eine Praxisänderung:

  • Dem aus Vertrag leistenden Versicherer den Regress auf den Haftpflichtversicherer zu verwehren, führt zu einer falschen Kostenverteilung, da die Leistungen der Schadenversicherung durch Prämien finanziert werden, deren Sinn allerdings nicht darin liege, einen Kausalhaftpflichtigen zu entlasten.
  • Da zahlreiche neue Gefährdungstatbestände eingeführt wurden, sei die bestehende Praxis nicht mehr zeitgemäss und führe zu Unterschieden im Sozialversicherungsrecht, wo den Versicherern ein integrales Regressrecht in Art. 72 ATSG zuerkannt werde.
  • In der anstehenden Revision des VVG soll neu in Art. 95c Abs. 2 eine dem ATSG vergleichbare Subrogation eingeführt werden.
  • Es überzeugt nicht, den Haftpflichtigen in jenen Fällen zu privilegieren, in welchen die geschädigte Person zufälligerweise selber für Versicherungsschutz gesorgt hat.

E. 2.6f. Fazit: „Die private Schadenversicherung ist im Verhältnis zum kausal haftpflichtigen Unfallverursacher gestützt auf Art. 72 Abs. 1 VVG gleich zu behandeln wie die Sozialversicherungen, welche insoweit in die Stellung der geschädigten Person subrogieren, als sie diese entschädigt haben.“ „Verursacht ein Kausalhaftpflichtiger einen Unfall, so begeht er eine unerlaubte Handlung im Sinne dieser Bestimmung, selbst wenn ihn kein Verschulden an der Unfallverursachung trifft. Denn ein Verschulden ist nach dem Wortlaut von Art. 72 Abs. 1 VVG nicht gefordert. Es genügt eine „unerlaubte Handlung“ („actes illicites“, „atti illeciti“). Damit fällt jeder als Gefährdungs- oder einfache Kausalhaftung normierte Tatbestand, mithin jegliche ausservertragliche Haftung im Sinne von Art. 41 ff. OR, unter den Begriff der unerlaubten Handlung im Sinne von Art. 72 Abs. 1 VVG.“ Art. 51 Abs. 2 OR findet keine Anwendung. Die Beschwerdeführerin als private Schadenversicherung der Geschädigten, kann daher gegen die Beschwerdegegnerin als obligatorische Versicherung der kausalhaftbaren Unfallverursacherin Regress nehmen.

So einfach wird das Grobe zum Einfachen

BGE 6B_1324/2017, das Elefantenrennen (gutgh. Beschwerde)

Beschwerdeführer ist LKW-Fahrer und hat einen anderen Brummi auf der Autobahn überholt. Für sein Ausschwenken auf die Überholspur, wodurch ein PKW abbremsen musste, wurde er mit am Ende des kantonalen Instanzenzugs mit grober Verkehrsregelverletzung bestraft. Vor BGer verlangt er eine einfache Verkehrsregelverletzung und erhält Recht.

E. 1. Zur Sistierung des Administrativverfahrens: Der Beschwerdeführer verlangt die Sistierung des Administrativverfahrens, was natürlich im Strafverfahren nicht geht. Allerdings merkt das BGer an, „dass die Verwaltungsbehörde – sofern ein Strafverfahren eingeleitet worden ist – mit dem Erlass einer administrativen Massnahme grundsätzlich zuwarten muss, bis ein rechtskräftiges Strafurteil vorliegt, soweit der Sachverhalt oder die rechtliche Qualifikation des in Frage stehenden Verhaltens für das Verwaltungsverfahren von Bedeutung ist.“

E. 2.1. zur den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung, insb. dass die Rücksichtslosigkeit verneint werden kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen.

E. 2.2 zu den Pflichten des Überholenden

E. 2.4. zur Meinung der Vorinstanz: Diese war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer auf den Spurwechsel hätte verzichten müssen, da er den nachfolgenden PKW im Seitenspiegel gesehen habe und als erfahrener Berufschauffeur um die Geschwindigkeitsdifferenzen von LKW und PKW wissen müsse. Dass er trotzdem überholte und auch den Blinker zu spät setzte, sei als rücksichtslos zu qualifizieren.

E. 2.5. Meinung des BGer: Nach dessen Ansicht handelte der Beschwerdeführer nicht rücksichtslos. Da der PKW relativ nah am LKW fuhr und fast gleichzeitig zum Überholen ausscherte, ist es durchaus denkbar, dass der Beschwerdeführer diesen beim kurzen Sicherheitsblick übersehen hat. Da der PKW auch schon eine gewisse Zeit hinter dem LKW fuhr, musste der Beschwerdeführer nicht damit rechnen, dass der PKW just im gleichen Moment überholen würde.

Fazit: Man muss stets versuchen, die besonderen Umstände zu finden, welche auf das Fehlen von Rücksichtslosigkeit hindeuten.

Der besonders leichte Fall

BGE 1C_608/2017: Bagatelldelikte im SVG (best. Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer befuhr einen Kreisel für eine Ausfahrt in der falschen Richtung. Was vom StVA SG noch als mittelschwere Widerhandlung qualifiziert wurde, änderte die Verwaltungsrekurskommission in eine leichte Widerhandlung, welche aber wegen einer Vorbelastung mit einem Monat Warnentzug sanktioniert wurde. Der Beschwerdeführer versucht, auf einen besonders leichten Fall zu plädieren.

E. 3.2.2. : Ein besonders leichter Fall im Sinn von Art. 16a Abs. 4 SVG liegt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor, wenn die Verletzung von Verkehrsregeln eine besonders geringe Gefahr für die Sicherheit anderer geschaffen hat und den fehlbaren Fahrzeuglenker nur ein besonders leichtes Verschulden trifft (Urteil 6A.52/2005 vom 2. Dezember 2005 E. 2.2.3). Die Auslegung des „besonders leichten Falls“ im Sinn von Art. 16a Abs. 4 SVG kann sich an den Verkehrsregelverletzungen orientieren, die nach dem Ordnungsbussengesetz erledigt werden und keine Administrativmassnahmen nach sich ziehen (Urteile 1C_183/2016 vom 22. September 2016 E. 3.1 und 1C_406/2010 vom 29. November 2010 E. 4.2).

E. 3.3.1./2. zum Sachverhalt: Der Beschwerdeführer hat zwei Verkehrssignale, nämlich „Kreisverkehrsplatz“ (2.41.1) und „Kein Vortritt“ (3.02), missachtet, wodurch sein Verschulden nicht mehr als besonders leicht bezeichnet werden kann. Ebenso kann die Gefährdung durch das Befahren eines Kreisels in falscher Richtung nicht mehr als besonders leicht bezeichnet werden wegen der Gefahr von Frontalkollisionen.

Die Annahme einer leichten Widerhandlung war korrekt. Ein besonders leichter Fall wird wohl zumeist von den kantonalen Behörden gemäss Art. 123 Abs. 2 VZV aussortiert.

Vom Beschuldigten zum Zeugen

BGE 6B_171/2017: Rollenspiele im Strafprozess (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer und eine Komplizin werden u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten strafrechtlich verfolgt. Die Komplizin war in einem separaten Strafverfahren geständig. Dieses wurde rechtskräftig erledigt. Nun wurde Sie im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeugin einvernommen. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass seine Komplizin als Auskunftsperson hätte befragt werden müssen und deshalb die Einvernahme unverwertbar sei. Der Entscheid beschäftigt sich lehrstückhaft mit der Frage, ob eine rechtskräftig verurteilte Person in einem späteren Verfahren gegen einen Tatbeteiligten ein Zeugnis ablegen kann.

E. 2. zu den versch. Rollen und deren Rechten und Pflichten: Gemäss Legaldefinition in Art. 162 StPO ist ein Zeuge an der Straftat nicht beteiligt und kann sachdienliche Aussagen machen. Der Rollenwechsel von Auskunftsperson und Zeugen zur Rechtstellung der beschuldigten Person ist grds. möglich (E. 2.1.4.). Der Wechsel von der Rolle der beschuldigten Person zum Zeugen wurde in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet: In BGE 6B_1039/2014 musste die verurteilte Person als Auskunftsperson befragt werden. In BGE 6B_1178/2016 wurde die Einvernahme als Zeuge wiederum gutgeheissen.

E. 2.3. zur Lehre: Die eine Lehrmeinung geht davon aus, dass man bzgl. eines Sachverhaltes ein Leben lang beschuldigte Person ist und deshalb später nur als Auskunftsperson einvernommen werden kann. Die andere Lehrmeinung geht davon aus, dass nach rechtskräftiger Erledigung eines Strafverfahrens der Rollenwechsel zum Zeugen möglich ist, wobei teils differenziert wird, ob eine Einstellungsverfügung oder ein richterliches Urteil ergangen ist (wegen Art. 323 StPO).

E. 3 zur Auslegung der StPO: Als Auskunftsperson wird einvernommen, wer in einem anderen Verfahren wegen einer Tat, die mit der abzuklärenden Straftat in Zusammenhang steht, beschuldigt ist. Der Zeuge wiederum hat mit dieser nichts zu tun. Die in einem anderen Verfahren rechtskräftig verurteilte Person ist nach der Ansicht des BGer weder Auskunftsperson noch Zeuge (E. 3.2.1.). Der Zweck der Auskunftsperson gemäss Art. 178 lit. f. StPO ist der Schutz des Betroffenen vor Interessenskollisionen (E. 3.2.2.). Historisch gesehen war dem Gesetzgeber bewusst, dass es problematisch sei, „wenn ein Restverdacht bleibe und die frühere beschuldigte Person, wenn sie als Zeugin wahrheitspflichtig würde, allenfalls Gefahr liefe, dass der Fall gegen sie wieder aufgenommen würde. Fragwürdig sei eine Zeugeneinvernahme sodann, wenn das Verfahren gegen die mitbeschuldigte Person allein aus prozessualen Gründen eingestellt worden sei.“ Trotzdem hat er auf eine entsprechende Regelung verzichtet, dass rechtskräftig verurteilte Personen als Auskunftspersonen einzuvernehmen seien. Das BGer folgert daraus, dass es dem Gesetzgeber bewusst war, dass Art. 178 lit. f. StPO nur auf Personen angewendet wird, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (E. 3.2.3.). Nach Auslegung mittels Methodenpluralismus liegt eine Lücke vor (E. 3.2.4.).

E. 3.3. Lückenfüllung durch das BGer: Das BGer ist der Ansicht, dass nach der rechtskräftigen Erledigung eines Strafverfahrens die Schutzrechte der Auskunftsperson nicht mehr nötig sind, da gemäss Art. 11 StPO der Grundsatz von „ne bis in idem“ gilt. Dem BGer ist dabei bewusst, dass die Wiederaufnahme des eingestellten Strafverfahrens (Art. 323 StPO) und die Revision eines Urteils möglich sind (Art. 410ff. StPO). „Den damit verbundenen Bedenken ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine Person gemäss Art. 169 Abs. 1 StPO das Zeugnis verweigern kann, wenn sie sich mit ihrer Aussage selbst derart belasten würde, dass sie strafrechtlich (lit. a; vgl. dazu Urteil 1B_436/2011 vom 21. September 2011 E. 2.4) oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden könnte, und wenn das Schutzinteresse das Strafverfolgungsinteresse überwiegt (lit. b; vgl. KAUFMANN, a.a.O., S. 161).“

E. 3.4. Fazit: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Person, die in einem getrennten Verfahren für die abzuklärende Tat oder eine damit in Zusammenhang stehende Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, grundsätzlich in analoger Anwendung von Art. 162 ff. StPO als Zeuge oder Zeugin einzuvernehmen ist. Bestehen jedoch im Einzelfall Anhaltspunkte dafür, dass die einzuvernehmende Person über ihre Verurteilung hinaus (vgl. jedoch Art. 11 StPO) als Täterin oder Teilnehmerin der abzuklärenden oder einer konnexen Straftat nicht ausgeschlossen werden kann, so ist sie gestützt auf Art. 178 lit. d StPO als Auskunftsperson einzuvernehmen. Der Entscheid über die Rolle der einzuvernehmenden Person richtet sich nach der Sach- und Rechtslage im Einvernahmezeitpunkt (vgl. oben E. 2.1.3).“

Strafantrag des Entlehner

BGE 6B_428/2017: Wenn man mit Muttis Auto fährt (gutgh. Beschwerde)

Ein kleiner aber feiner BGE: Die Strafantragstellerin hatte das Auto ihrer Mutter ausgeliehen für eine Spritzfahrt. Aus unbekannten Gründen geriet sie auf der Strasse mit dem Beschwerdeführer aneinander. Als sie sich nicht auf ein Streitgespräch mit diesem einlassen wollte, schlug der Beschwerdeführer mit der Faust auf die Motorhaube, wodurch eine Delle entstand. Die Tochter und Lenkerin stellt Strafantrag wegen Sachbeschädigung, wogegen sich der Beschwerdeführer erfolgreich wehrt.

E. 1.2. zur Strafantragsberechtigung: „Die Antragsberechtigung gemäss Art. 30 Abs. 1 StGB richtet sich nach dem Träger des angegriffenen Rechtsgutes. Handelt es sich nicht um höchstpersönliche Rechtsgüter, kann auch derjenige im Sinne von Art. 30 Abs. 1 StGB verletzt sein, in dessen Rechtskreis die Tat unmittelbar eingreift, sowie derjenige, dem eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Gegenstandes obliegt. Hinsichtlich der Sachbeschädigung hat das Bundesgericht die Antragsberechtigung in diesem Sinne auch auf den Mieter bzw. jeden Berechtigten, der die Sache nicht mehr gebrauchen kann, ausgedehnt. Ebenso hat es angenommen, das Strafantragsrecht stehe bei einem Aneignungsdelikt, sofern dieses nur auf Antrag verfolgt wird, auch anderen Berechtigten zu, deren Interessen am Gebrauch der Sache durch die Wegnahme derselben unmittelbar beeinträchtigt wurden (BGE 118 IV 209 E. 3b; BGE 121 IV 258 E. 2b; je mit Hinweisen; zum Strafantragsrecht des Mieters eines Autos TRECHSEL/JEAN-RICHARD, in: Trechsel/Pieth, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 2 zu Art. 30 StGB, mit Hinweis auf SJZ 57/1961 S. 176).“

E. 1.3. zur Antragsberechtigung des Entlehners: Die Antragstellerin konnte trotz Delle weiterfahren. Für den Zufall haftet sie als Entlehnerin nur bei nicht bestimmungsgemässen Gebrauch (Art. 306 Abs. 3 OR), weshalb ihr auch keine besondere Verantwortung für die Erhaltung der Sache zukommt. Sie ist demnach nicht berechtigt, Strafantrag zu stellen.

Im Zweifelsfalle sollte immer der Eigentümer selber Strafantrag stellen.

Fahreignung und die Zweifel

BGE 1C_384/2017: Wenn der Lenker die Zweifel auf dem Silbertablett serviert (gutgh. Beschwerde des StVA)

Das StVA ZH ordnete bei der Beschwerdegegnerin eine Fahreignungsabklärung an. Wegen einer Nachbarschaftsstreitigkeit ging diese nach dem Konsum von Alkohol in den Garten ihres Nachbarn und warf dort eine Stosskugel gegen die Hauswand. Die Polizei äusserte in ihrem Bericht zu dieser Geschichte auch ernsthafte Zweifel an der Fahreignung der Beschwerdegegnerin. Das Verwaltungsgericht hiess den Rekurs der Beschwerdegegnerin gut, wonach das StVA ZH Beschwerde beim BGer führt. Während dem Verfahren lenkte die Beschwerdegegnerin ein Auto mit qualifizierter BAK, was das Strassenverkehrsamt als Novum geltend macht. Die Betroffene sowie auch das ASTRA beantragen die Abweisung der Beschwerde.

E. 1.2. zum Novum: Der FiaZ kann aus prozessökonomischen Gründen als Novum eingeben werden.

E. 2.1. zum Begriff der Trunksucht: „Trunksucht wird nach der Praxis des Bundesgerichts bejaht, wenn der Fahrzeugführer regelmässig so viel Alkohol konsumiert, dass seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er keine Gewähr bietet, den Alkoholkonsum zu kontrollieren und ihn ausreichend vom Strassenverkehr zu trennen, so dass die Gefahr nahe liegt, dass er im akuten Rauschzustand am motorisierten Strassenverkehr teilnimmt (BGE 129 II 82 E. 4.1 S. 86 f.; 127 II 122 E. 3c S. 126). Der Suchtbegriff des Verkehrsrechts deckt sich nicht mit dem medizinischen Begriff der Alkoholabhängigkeit.“

E. 2.2. zum Grad der Zweifel: „Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind die Anforderungen an die Anordnung einer Fahreignungsuntersuchung nicht dieselben wie für den vorsorglichen Führerausweisentzug, obschon diese beiden Massnahmen häufig zusammen ergehen: Während für Erstere hinreichende Anhaltspunkte ausreichen, welche die Fahreignung in Frage stellen, setzt der vorsorgliche Führerausweisentzug voraus, dass ernsthafte Zweifel an der Fahreignung einer Person bestehen, wie dies namentlich bei konkreten Hinweisen auf eine Alkoholabhängigkeit der Fall ist (zum Ganzen: Urteil 1C_531/2016 vom 22. Februar 2017 E. 2.4.2 mit Hinweisen). Die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Untersuchung setzt nicht zwingend voraus, dass der Fahrzeugführer tatsächlich unter dem Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmitteln gefahren ist (vgl. Urteile 1C_111/2015 vom 21. Mai 2015 E. 4.6; 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 3.2; 1C_445/2012 vom 26. April 2013 E. 3.2).“

E. 2.3./4. zu den Zweifeln: Die Vorinstanz stellte fest, dass bei der Beschwerdegegnerin eine Kombination von psychischen Störungen sowie ein schädlicher Alkoholkonsum vorlagen. Eine Alkoholabhängigkeit sowie ein Konnex zw. Strassenverkehr und dem Kugelstossen gab es aber nicht. Auch die ärztlich verschriebenen Benzodiazepine änderten nichts daran, dass die Fahreignung gegeben war. Dem schliesst sich auch das Bundesgericht an und stimmt der Vorinstanz im Grundsatz zu und bezeichnet es als „fraglich“ wegen dem Kugelstoss an der Fahreignung zu zweifeln. Mit dem FiaZ während dem Verfahren hat die Beschwerdegegnerin dann aber selber gezeigt, dass sie eben nicht zwischen Strassenverkehr und Alkoholkonsum trennen kann, auch wenn die BAK „nur“ 1.32% betrug. In der Gesamtwürdigung aller Umstände sind die Zweifel insofern berechtigt.

Da wird jemand eine „unglückliche“ Rechtsvertreterin haben, denn vor dem FiaZ hätte es keine Zweifel an der Fahreignung gegeben.

Das Ausweichmanöver

Urteil 6B_351/2017: Das bestrafte Ausweichmanöver (gutgh. Beschwerde)

Endlich wieder einmal ein Urteil mit so richtig saftigem SVG-Fleisch am Knochen. Der Beschwerdeführer war mit seinem Lieferwagen auf einer vortrittsberechtigten Strasse mit ca. 50km/h unterwegs. Plötzlich nahm er ein Auto wahr, das etwa 10m vor ihm von einem Parkplatz auf seine Fahrbahn hinausfuhr. Intuitiv leitete er bremsend ein Ausweichmanöver auf die Gegenfahrbahn ein, wobei es zu einer Kollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kam, dessen Lenker ein Schleudertrauma erlitt. Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer von den kantonalen Instanzen wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Das BGer heisst die Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass in einer Gefahrsituation, in welcher man sich blitzartig für eine Reaktion entscheiden muss, rückblickend dem Reagierenden das Wählen einer objektiv schlechteren Reaktion nicht vorgeworfen werden kann. Die Vorinstanzen hingegen beziehen sich auf ein Gutachten, nach welchem mit einer Vollbremsung die Kollision mit dem vortrittsbelastenden Auto „beinahe“ hätte vermieden werden können. Insofern habe der Beschwerdeführer sein Fahrzeug durch das Vornehmen des Ausweichmanövers nicht beherrscht und gegen Art. 31 SVG verstossen.

E. 1.3. zur Sorgfaltspflichtsverletzung des Fahrlässigkeitsdeliktes im SVG: „Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat.“ “ Die Zurechenbarkeit des Erfolgs bedingt die Vorhersehbarkeit nach dem Massstab der Adäquanz. Weitere Voraussetzung ist, dass der Erfolg vermeidbar war.“ Im Strassenverkehr ergeben sich die Sorgfaltspflichten aus dem SVG. Das Beherrschen des Fahrzeuges setzt voraus, dass der Lenker seine Aufmerksamkeit der Strasse zuwendet (SVG 31 i.V.m. VRV 3). Ebenso muss er seine Geschwindigkeit stets den Umständen anpassen (SVG 32).“ Dies gilt auch beim Befahren von Hauptstrassen, weil auch der Vortrittsberechtigte der allgemeinen Sorgfaltspflicht untersteht und sich nicht blindlings auf sein Vortrittsrecht verlassen darf (BGE 89 IV 140 E. 3c S. 145 mit Hinweisen).“

In gewissen Situationen wird die Sicht des Vortrittsbelastenden in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche dermassen behindert, „dass er zwangsläufig mit dem Vorderteil seines Wagens in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche gelangt, bevor er von seinem Fahrersitz aus überhaupt Einblick in diese erhält. In solchen Situationen ist daher gemäss der Praxis des Bundesgerichts ein sehr vorsichtiges Hineintasten zulässig, wenn der Vortrittsberechtigte das ohne Sicht langsam einmündende Fahrzeug rechtzeitig genug sehen kann, um entweder selbst auszuweichen oder den Wartepflichtigen durch ein Signal zu warnen (BGE 143 IV 500 E. 1.2.2; 127 IV 34 E. 3c/bb S. 43 f.; 122 IV 133 E. 2a S. 136; BGE 105 IV 339 E. 3; je mit Hinweisen). Dabei darf grundsätzlich darauf vertraut werden, dass vortrittsberechtigte Fahrzeuge abbremsen oder sogar anhalten, wenn das einbiegende Fahrzeug aus genügend grosser Entfernung gesehen werden kann (BGE 89 IV 140 E. 3c; Urteil 6B_1185/2014 vom 24. Februar 2015 E. 2.5).

E. 1.4. zur Meinung des BGer: Entgegen den Vorinstanzen erkennt das BGer im Verhalten des Beschwerdeführers keine Sorgfaltspflichtsverletzung und insofern kein schuldhaftes Verhalten. „Vom Fahrzeuglenker wird grundsätzlich eine richtige, situationsadäquate Reaktion verlangt. Doch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der Fahrzeuglenker im Strassenverkehr überraschend in eine kritische Situation kommen kann, in der Fehlentscheide möglich und verständlich sind. Unvermutet auftretende Gefahren stellen oft hohe und höchste Ansprüche an die Reaktionsfähigkeit der Betroffenen, weshalb dem Fahrzeugführer nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn sich seine Reaktion im Nachhinein, nach ruhigem Überlegen und Abwägen, allenfalls nach Durchführung einer technischen Expertise, als nicht die beste aller denkbaren Reaktionsweisen erweist, jedenfalls so lange nicht, als die getroffene Reaktion verständlich und nicht als abwegig oder gar kopflos erscheint (Urteil 1C_361/2014 vom 26. Januar 2015 E. 3.1 mit Hinweisen).“ „Das Bundesgericht verlangt, dass die ergriffene Massnahme und diejenige, welche ex post als die zweckmässigere erscheint, annähernd gleichwertig sein müssen und dass der Fahrzeugführer deren unterschiedliche Wirksamkeit nur deshalb nicht erkannte, weil die plötzlich eingetretene Situation eine augenblickliche Entscheidung erforderte. Wo eine Vorkehr im Vergleich zu andern sich aber derart aufdrängt, dass sie auch im Falle der Notwendigkeit sehr rascher Reaktion als die näherliegende und angemessenere erkannt werden kann, ist es als Fehler anzurechnen, wenn trotzdem eine weniger geeignete getroffen wird.“

Das Ausweichmanöver war nach der Ansicht des BGer im Vergleich zu einer Vollbremsung eine mehr oder weniger gleichwertige Reaktion, weshalb die Kollision nicht schuldhaft verursacht wurde.