Die wunderbare Welt der Alkohol-Gutachten

BGE 6B_918/2017: FiaZ und die Gutachten dazu (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer fuhr mit einem Kollegen zu Beginn der Fasnacht in Huttwil mit einem Lieferwagen umher, wobei sie mehrfach ein Knallgasgemisch in dafür präparierten Rohren entzündeten. Später griff die Polizei den Beschwerdeführer bei seinem Kollegen auf, brachte ihn ins Spital, wo eine Blutalkoholkonzentration von 1.88% gemessen wurde. Er beschwert sich beim Bundesgericht gegen die Verurteilung wegen qualifiziertem FiaZ.

E. 1. zur Anordnung der Blutprobe: Zunächst rügt der Beschwerdeführer, dass die Blutprobe nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von der Polizei angeordnet wurde, womit Art. 241 Abs. 1 StPO verletzt sei. Das BGer entgegnet: „Der Instanzenzug muss nicht nur prozessual durchlaufen, sondern auch materiell erschöpft sein. Verfahrensrechtliche Einwendungen, die im kantonalen Verfahren hätten geltend gemacht werden können, können nach dem Grundsatz der materiellen Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs vor Bundesgericht nicht mehr vorgebracht werden (BGE 135 I 91 E. 2.1 S. 93; Urteil 6B_673/2017 vom 2. Oktober 2017 E. 1.2.2). Es verstösst gegen Treu und Glauben, verfahrensrechtliche Mängel erst in einem späteren Verfahrensstadium oder sogar erst in einem nachfolgenden Verfahren geltend zu machen, wenn der Einwand schon vorher hätte festgestellt und gerügt werden können (BGE 143 V 66 E. 4.3 S. 69 f.; Urteil 6B_178/2017 vom 25. Oktober 2017 E. 4; je mit Hinweisen).“

E. 2. zum rechtlichen Gehör bzgl. Gutachten: Um die Nachtrunkbehauptung des Beschwerdeführers zu überprüfen, hat das IRM Bern bei der Universitätsklinik Freiburg i. Br. eine sog. Begleitstoffanalyse in Auftrag gegeben, weil das IRM Bern dafür die Infrastruktur nicht hat. Die Begleitstoffanalyse ist ein Standardverfahren, bei welchem die Probe mit Headspace-Gaschromatographie-Flammenionisationsdetektion analysiert wird. Der Beschwerdeführer rügt, dass er sich dazu nicht äussern konnte.

Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO ist das rechtl. Gehör der Parteien zu Gutachten ausdrücklich geregelt, wird aber im gleichen Absatz auch wieder relativiert. So kann davon abgesehen werden, wenn es um Bestimmung der BAK oder andere Standard-Laboruntersuchungen geht. Der Grund für die Ausnahmeregelung liegt darin, dass es bei den in Art. 184 Abs. 3 Satz 2 StPO genannten Gutachten um standardisierte Expertisen geht, welche aufgrund allgemein anerkannter Methoden in weitgehend technisch vorgegebener Weise erstellt werden. Die Gewährung des rechtl. Gehörs macht v.a. bei psychiatrischen Gutachten Sinn. Da es sich bei der Begleitstoffanalyse um ein Standardverfahren ohne grosse Interpretationsmöglichkeit handelt, musste das rechtl. Gehör nicht bereits vorher gewährt werden.

E. 3. zur Externalisierung des Gutachtens: Der Beschwerdeführer rügt, dass der Auftrag an das Uniklinikum Freiburg i. Br. von der Staatsanwalt hätte erfolgen müssen und nicht durch das IRM Bern. Der Gutachter kann gemäss Art. 184 Abs. 2 lit. b StPO weitere Personen einsetzen. Solange nur Teilaspekte des Gutachtens weitergegeben werden, ist dafür keine Zustimmung der Staatsanwaltschaft nötig. Die Begleitstoffanalyse ist lediglich ein Teilaspekt, der dann auch vom IRM Bern interpretiert wurde, weshalb der Auftrag nicht von der Staatsanwaltschaft zu erfolgen hatte.

Die Begleitstoffanalyse widerlegte die Nachtrunkbehauptungen des Beschwerdeführers. Es handelt sich dabei um ein Standardverfahren, welches kein vorheriges rechtliches Gehör bedarf. Ebenso ist es empfehlenswert, sämtliche formaljuristische Voraussetzungen von Beginn weg zu prüfen, insb. die Anordnung der Blutprobe.

A-Post Plus im Strafverfahren

BGE 6B_773/2017: A-Post Plus und Zustellfiktion im Strafverfahren (gutg. Beschwerde)

In diesem Entscheid geht es um die Frage, ab wann ein Dokument, i.c. eine Einstellungsverfügung, im Strafverfahren als zugestellt gilt, wenn dieses mit A-Post Plus verschickt wird, was natürlich Auswirkungen auf den Fristenlauf hat. Die Einstellungsverfügung wurde im vorliegenden Fall an einem Samstag ins Postfach des Rechtsvertreters gelegt. Die kantonalen Instanzen gingen davon aus, dass die Beschwerdefrist bereits am folgenden Sonntag zu laufen begann und erachteten die Beschwerde des Rechtsvertreters als verspätet. Dieser nahm von der Verfügung am Montag Kenntnis und ging davon aus, dass die Beschwerdefrist am Dienstag zu laufen begann.

E. 2.1./2. Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass mit Zustellung eines Dokumentes per A-Post-Plus keine Empfangsbestätigung eingeholt werde, weshalb Art. 85 Abs. 2 StPO verletzt sei. Die Vorinstanz geht davon aus, dass mit der registrierten Zustellung A-Post Plus ein Schreiben in den Machtbereich des Empfängers gelangt sei und deshalb auch den Fristenlauf für allfällige Rechtsmittel auslöst.

E. 2.3ff. Meinung es Bundesgerichts: Es äussert sich zunächst zu den gesetzlichen Grundlagen und hält zu Art. 85 StPO fest, dass die „gesetzlich vorgeschriebenen Zustellformen dem Umstand Rechnung tragen, dass Verfügungen oder Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten (BGE 122 I 97 E. 3a/bb; Urteil 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Der Beweis der ordnungsgemässen Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die hieraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 142 IV 125 E. 4; 136 V 295 E. 5.9; 129 I 8 E. 2.2; je mit Hinweisen).“ Mangels Empfangsbestätigung genügt die Zustellung mit A-Post Plus den gesetzlichen Anforderungen von Art. 85 Abs. 2 StPO nicht (E. 2.3.1.).

„Eine Zustellung ist gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2 StPO auch dann gültig erfolgt, wenn die Kenntnisnahme des Empfängers auf andere Weise bewiesen werden kann und die zu schützenden Interessen des Empfängers (Informationsrecht) gewahrt werden (vgl. BGE 142 IV 125 E. 4.3; Urteile 1B_41/2016 vom 24. Februar 2016 E. 2.2; 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Entscheidend ist, ab welchem Zeitpunkt von einer Kenntnisnahme ausgegangen werden kann.“ Das BGer lehnt die Meinung der Vorinstanz ab, welches mit der Zustellung einer Sendung vom Beginn des Fristenlaufes ausgeht. In diesem Fall wäre es möglich, dass jemand ohne jemals Kenntnis von einer Verfügung zu haben, eine Rechtsmittelfrist verpasst. „Es ist daher zentral, dass der Betroffene seine Rechte effektiv wahren kann und ihm das Ergreifen eines Rechtsmittels nicht unnötig erschwert oder verunmöglicht wird. Die Rechtsmittelfrist kann erst dann zu laufen beginnen, wenn die betroffene Person im Besitz aller für die erfolgreiche Wahrung ihrer Rechte wesentlichen Elemente ist (BGE 102 Ib 91 E. 3). Bestehen besondere Formvorschriften, darf an den blossen Zugang in den Machtbereich des Empfängers keine fristauslösende Wirkung geknüpft werden. Massgebend ist vielmehr die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Adressaten.“

Das BGer heisst die Beschwerde gut. Der Zustellnachweis der A-Post Plus reicht also nicht dafür aus, dass die teils kurzen Fristen im Strafverfahren zu laufen beginnen. Vielmehr benötigt es dafür grds. die Kenntnisnahme des Empfängers.

Der Raser in Polen

BGE 1C_559/2017: Die Folgen von Widerhandlungen im Ausland

Der Beschwerdeführer hat in Polen die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50km/h um 51km/h überschritten. Die polnischen Behörden haben den FA eingezogen und an das StVA Kt. BE geschickt, das den FA wiedererteilt und das Administrativverfahren sistiert hat. In Polen wurde ein Fahrverbot von drei Monaten verfügt, woraufhin das StVA eine schwere Widerhandlung angenommen und unter Berücksichtigung einer älteren mittelschweren Widerhandlung einen Warnentzug von neun Monaten verfügt hat. Der Beschwerdeführer bringt vor, dass bereits in Polen eine Massnahme verfügt wurde und beantragt die Aufhebung der Verfügung des StVA.

E. 2.1. zu Art. 16cbis SVG: Vorausgesetzt werden ein Fahrverbot im Ausland und dass die Widerhandlung nach CH-Recht mittelschwer oder schwer war. Ebenso verweist das BGer darauf hin, dass nach der ständigen Rechtsprechung die Kaskade auch für im Ausland begangene Widerhandlungen gilt.

E. 2.2.2-4 zur Massnahme: Weil bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht herauszufinden war, ob die polnischen Behörden einen Sicherheitsabzug gemäss ASTRA-VO gemacht haben, ging man am Schluss von einer Überschreitung von 46km/h aus, was gemäss Schematismus eine schwere Widerhandlung ist. Da die Geschwindigkeitsüberschreitung um einiges höher war, als die „magische Grenze“ von 25km/h innerorts, hat die Behörde ihr Ermessen gemäss SVG 16 III nicht überschritten, indem sie neun Monate Warnentzug verfügt hat.

Im Ausland rasen lohnt sich nicht…

Ausstand im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft

BGE 1B_375/379/2017: Ausstand im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Die Strafbehörden führen eine Untersuchung gegen die beschwerdeführenden Ehegatten wegen Menschenhandel. Letztere sollen mehrere Frauen illegal und in ausbeuterischer Weise v.a. aus Malaysia in die Schweiz geschlossen haben. Die Ehegatten wehren sich gegen den Vorwurf des Menschenhandels und verlangen aufgrund div. Verfahrensmängeln, dass die untersuchende Staatsanwältin in den Ausstand tritt.

E. 2. Zum Ausstand: „Befangenheit einer staatsanwaltlichen Untersuchungsleiterin oder eines Untersuchungsleiters ist nach der Praxis des Bundesgerichtes namentlich anzunehmen, wenn nach objektiver Betrachtung besonders krasse oder ungewöhnlich häufige Fehlleistungen der Untersuchungsleitung vorliegen, welche bei gesamthafter Würdigung eine schwere Verletzung der Amtspflichten darstellen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken.“

E. 4. Zu den Verfehlungen: Die Vorinstanz hat verschiedene Fehler der untersuchenden Staatsanwaltschaft festgestellt, u.a.:

– Ausübung von Druck auf die eingeschleusten Opfer bzgl. Aussagen.
– Versprechen von Privilegierungen, wenn Opfer belastende Aussagen machen.
– Verweigerung von Parteirechten bei Einvernahmen von Auskunftspersonen oder Zeugen.
– Kein Untersuchen von entlastenden Umständen.

E. 5. Zur Schlussfolgerung: Obwohl die Vorinstanz die Untersuchungsführung als „heikel, unglücklich und falsch“ bezeichnet, sieht sie keine Befangenheit der Staatsanwältin. Diese Schlussfolgerung bezeichnet das BGer als „schwer nachvollziehbar“. Die Verfehlungen der Untersuchungsbehörde können nicht geheilt werden. „Die von der Vorinstanz festgestellten diversen Verfahrensfehler, die sich allesamt zum Nachteil der Beschwerdeführer als beschuldigte Parteien ausgewirkt haben, erscheinen bei gesamthafter Betrachtung schwerwiegend. Bei objektiver Würdigung der von der Vorinstanz festgestellten Prozessgeschichte drängt sich der Eindruck auf, dass die Untersuchungsleiterin voreingenommen ist. Sie hat in geradezu systematisch anmutender Weise die Parteirechte der Beschwerdeführer missachtet und sich in unfairer Weise einseitig auf die Beschaffung von belastendem Beweismaterial konzentriert.“

Das BGer heisst das Ausstandsbegehren gut.

Rasen im Ausland bleibt nicht ungesühnt

BGE 1C_432/2017: Geschwindigkeitsexzess in FR (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer überschritt die Tempolimite in FR um 69km/h, weshalb in FR ein Fahrverbot von vier Monaten angeordnet wurde. Das Strassenverkehrsamt Kt. SZ verfügt einen Ausweisentzug gemäss SVG 16cbis von sechs Monaten. Das BGer weist die Beschwerde gegen diese Verfügung ab.

E. 2.1-3. Zum Allgemeinen: Gemäss SVG 16cbis II kann die Dauer der inländischen Massnahme jene der ausländischen überschreiten, wenn man bereits im ADMAS-Register eingetragen ist. Geschwindigkeitsüberschreitungen um 35km/h und mehr auf der Autobahn sind schwere Widerhandlungen. Die Verwaltungsbehörde ist an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt grds. gebunden.

E. 2.4. zum internationalen Recht: „Die Zustellung eines Strafbefehls in einen anderen Staat stellt einen formellen Akt der Gerichtsbarkeit dar und hat auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen, wenn keine Rechtsgrundlage für eine andere Zustellungsform besteht (vgl. zum Ganzen BGE 1C_236/2016 E. 3.2; 2C_827/2015 E. 3.2, in: RDAF, 2017 II 427; je mit Hinweisen). Schriftstücke in Strafsachen wegen Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften dürfen Empfängern in der Schweiz gemäss Art. 30 Abs. 2 der Verordnung über internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 24. Februar 1982 (IRSV; SR 351.11) unmittelbar mit der Post zugestellt werden. Im Verhältnis zwischen der Schweiz und Frankreich bestehen zudem mehrere staatsvertragliche Bestimmungen, welche der IRSV als lex specialis vorgehen und die Behörden dazu ermächtigen, gerichtliche Urkunden in Strafsachen direkt per Post ins Ausland zuzustellen (vgl. Art. X Ziff. 1 des Vertrags zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Regierung der Französischen Republik zur Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen [SR 0.351.934.92]; Art. 16 Ziff. 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe vom 8. November 2001 [SR 0.351.12], dem sowohl die Schweiz als auch Frankreich angehören; Art. 52 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19. Juni 1990 [SDÜ; Amtsblatt der EU Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 19-62; nicht in der SR veröffentlicht]). Nach der Mitteilung der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu Art. 52 Abs. 1 SDÜ erfasst die Liste der Verfahrensurkunden, die direkt durch die Post in einen anderen Staat übersandt werden dürfen, auch Schriftstücke in Strafsachen wegen Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften.“

Es bestehen insofern genügend gesetzliche Grundlagen für die Zustellung franz. Strafurteile, womit das Territorialitätsprinzip nicht verletzt ist.

E. 3ff.: Der Beschwerdeführer hat den Strafbefehl aus FR erhalten. Dieser beinhaltete auch eine Rechtsmittelbelehrung. Er hat sich aber nicht im Strafverfahren gegen den Vorwurf gewehrt, womit das StVA an den Sachverhalt gebunden ist. Weil der Beschwerdeführer im ADMAS-Register bereits eingetragen ist, durfte das StVA die Dauer der ausl. Massnahme zudem überschreiten.

Der Entscheid beschäftigt sich exemplarisch mit den Verflechtungen zwischen FR und CH bzgl. Geschwindigkeitsexzess und internationalem Recht.

Die Ehefrau im Visier der Strafbehörden

BGE 6B_1025/2016: Rechtsbelehrung bei Einvernahmen (Leitentscheid, gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid setzt sich lehrstückhaft mit den Verfahrensrollen der Auskunftsperson und des Zeugen im Strafverfahren auseinander und welche Mitwirkungs- und Aussageverweigerungsrechte die Beteiligten haben. Im vorliegenden Fall wurde die Ehegattin als Auskunftsperson zu mutmasslichen Straftaten ihres Ehemannes befragt.

E. 1.2.1./2. zu den gesetzlichen Regelungen der Auskunftsperson und des Zeugen:

Während der Zeuge grds. nichts mit der untersuchten Straftat zu tun hat, nimmt die Auskunftsperson eine Stellung zwischen Zeuge und beschuldigter Person ein. So kann als Auskunftsperson einvernommen werden, wer ohne beschuldigt zu sein, trotzdem etwas mit der untersuchten Straftat zu tun haben könnte (vgl. Art. 178 Lit. d StPO). Der Auskunftsperson kommt deshalb ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht zu, weil sie in erster Linie eigene Interessen schützt (vgl. Art. 180 StPO). Der Zeuge wiederum ist an der Straftat nicht beteiligt, weshalb er grds. zum wahrheitsgemässen Zeugnis verpflichtet ist (vgl. Art. 163 Abs. 2 StPO). Er hat ein beschränktes Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. wenn er gegen eine nahestehende Person aussagen müsste und insofern in einem Interessenkonflikt stünde (vgl. Art. 168 StPO).

E.1.3.ff. zur Hinweispflicht bei der ersten Einvernahme:

Die Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme hängt von der Stellung einer Person im Verfahren ab. Die unterschiedlichen Mitwirkungsverweigerungs-rechte der Auskunftsperson einerseits und der Zeugin oder des Zeugen andererseits beruhen auf anderen Prämissen und verfolgen andere Ziele. Während das Aussageverweigerungsrecht der Auskunftsperson deren eigene Interessen im Verfahren schützt, betrifft das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen nicht den Schutz der befragten, sondern den Schutz der beschuldigten Person. Der Zeuge soll insofern davor geschützt werden, dass er sich zwischen einem strafbaren Falschzeugnis zugunsten der beschuldigten Person oder einem Zeugnis, dass schlimmstenfalls ein Familienmitglied belastet, entscheiden muss. Nun gibt es Konstellationen, in welchen eine Auskunftsperson aber sogleich auch Zeuge sein könnte. Gemäss BGer ist es deshalb unerlässlich, dass die zu befragende Person über beide Arten der Mitwirkungsverweigerungsrechte zu belehren ist, wenn ihr als Auskunftsperson zusätzlich zum allgemeinen Aussageverweigerungsrecht ein spezifisches Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. als naher Angehöriger zukommt (E. 1.3.1.).

Die Lehre schliesst sich dem an und unterscheidet zwischen zwei Arten von Auskunftspersonen, einerseits der „normalen“ und andererseits dem sog. „Quasi-Zeugen“. Ist von Anfang an klar, dass der Auskunftsperson in materieller Hinsicht auch Zeugenstellung zukommt, so muss sie über die entsprechenden Zeugnisverweigerungsrechte belehrt werden (E. 1.3.2.).

Einvernahmen unterstehen einem strengen Beweisverwertungsverbot, wenn die entsprechende Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme nicht erfolgte. Wird eine Auskunftsperson als „Quasi-Zeuge“ von der Polizei nicht über die Zeugnisverweigerungsrechte aufgeklärt, ist die Einvernahme unverwertbar (E. 1.3.3).

Vorliegend wurde die Ehegattin als Auskunftsperson einvernommen und entsprechend über ihre Rechte aufgeklärt. Ihr kommt aber als „Quasi-Zeugin“ ebenfalls das Zeugnisverweigerungsrecht zu, worüber sie nicht aufgeklärt wurde. Die Einvernahme ist unverwertbar.

Verhältnismässigkeit von Auflagen nach FiaZ

BGE 1C_320/2017: Verhältnismässigkeit von Auflagen nach der Fahreignungsabklärung (gutgh. Beschwerde)

Fast schon gebetsmühlenartig wiederholen die Strassenverkehrsämter die Notwendigkeit von Auflagen, wenn sie in einem medizinischen Gutachten empfohlen werden, ohne diese weiter zu hinterfragen. Nach der gängigen Rechtsprechung sind die Strassenverkehrsämter bzw. Behörden allgemein an Gutachten gebunden, d.h. die Beurteilung von verkehrsrechtlichen Fragen wurde de facto an Fachärzte ausgelagert. Nun hat sich das BGer zur Verhältnismässigkeit von Auflagen geäussert:

Aufgrund einer FiaZ-Fahrt mit mind. 1.7% musste die Beschwerdeführerin eine Fahreignungsabklärung machen. Das Gutachten fiel positiv aus, allerdings unter Einhaltung einer Fahrkarenz nach Alkoholkonsum während zwölf Monaten sowie der Durchführung von halbjährlichen Verlaufskontrollen zur Überprüfung eines sozialverträglichen Trinkverhaltens mittels Haaranalysen während desselben Zeitraums. Gegen diese Auflagen gelangt die Beschwerdeführerin an das BGer, welches die Beschwerde gutheisst:

E. 2.2 zur Definition der Trunksucht im verkehrsrechtlichen Sinne.

E. 2.3 zur Bindung an Gutachten:

„Ob ein Gericht die in einem Gutachten oder Fachbericht enthaltenen Erörterungen für überzeugend hält oder nicht und ob es dementsprechend den Schlussfolgerungen der Experten folgen soll, ist eine Frage der Beweiswürdigung, in die das Bundesgericht nur eingreift, sofern sie offensichtlich unrichtig ist (vgl. Art. 105 Abs. 1 und Art. 97 Abs. 1 BGG; Urteil 1C_179/2015 vom 11. Mai 2016 E. 5.2). Das Gericht darf in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe vom Gutachten abweichen (BGE 136 II 214 E. 5 S. 223 f.). Dies ist nur zulässig, wenn die Glaubwürdigkeit des Gutachtens durch die Umstände ernsthaft erschüttert ist (BGE 140 II 334 E. 3 S. 338). Erscheint dem Gericht die Schlüssigkeit eines Gutachtens in wesentlichen Punkten zweifelhaft, kann ein Abstellen darauf gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung (Art. 9 BV) verstossen (BGE 130 I 337 E. 5.4.2 S. 345 f.)“.

E. 2.4 zu den Gründen für die Trunkenheitsfahrt:

  • Grosse Arbeitsbelastung, 13-14h am Tag.
  • Beziehungskrise mit Freund.
  • Krebserkrankung der Mutter.
  • Beerdigung eines guten Schulfreundes.

Ferner gutachterlich festgestellt:

  • Beschwerdeführerin hinterfragt sich (Stichwort „intrinsische Motivation“).
  • Keine Bagatellisierungstendenzen.
  • Mühelose Abstinenz.
  • I.d.R. moderater Alkoholkonsum.
  • Ärztlich attestierte stabile psychische Konstitution.
  • Guter allgemeiner Gesundheitszustand.

E. 2.5 zur den Auflagen:

Das Gutachten fällt durchwegs positiv aus. Einzig die Trunkenheitsfahrt selber muss sich die Beschwerdeführerin anlasten lassen. Das BGer hält es für „nicht nachvollziehbar, weshalb die Gutachterin die Fahreignung der Beschwerdeführerin nur unter bestimmten Auflagen befürwortet.“ Die Haaranalyse ergab einen EtG-Wert von unter 7pg/mg, was auf keinen oder höchstens sozialverträglichen Alkoholkonsum hindeutet. Der automobilistische Leumund ist bisher ungetrübt. Der Vorfall erscheint als einmaliger Ausrutscher.

E. 2.6 Fazit: “ Insgesamt bestanden für die Vorinstanz somit triftige Gründe, um von den nicht näher begründeten und sich nicht ohne Weiteres aus den gutachterlichen Abklärungen ergebenden Schlussfolgerungen der Expertin bzw. den entsprechend verfügten Auflagen abzuweichen. Angesichts der persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin, ihres bisherigen Verhaltens im Strassenverkehr, ihrer Konsumgewohnheiten und ihrer Aufarbeitung des Vorfalls drängte sich vielmehr die Annahme auf, dass kein verkehrsrelevanter Eignungsmangel vorliegt und insofern ein Warnungsentzug ausreicht, um sie in Zukunft zuverlässig von weiteren Trunkenheitsfahrten abzuhalten. Unter diesen Umständen erweist sich die Wiedererteilung des Führerausweises nach Ablauf des Warnungsentzugs gegen Auflagen als nicht verhältnismässig und ist bundesrechtswidrig.“

Das BGer erachtet das Gutachten als offensichtlich unrichtig bzgl. Auflagen und erscheint in dieser ganzen Geschichte als letzte Bastion des gesunden Menschenverstandes bzw. als Wächter der Verhältnismässigkeit. Die „Mühle“ im Administrativverfahren ist unter via sicura gewaltig geworden. Der vorliegende Entscheid stösst in die richtige Richtung…

Raserurteil nach alter Schule

BGE 6B_1050/2017: Neues Raserurteil, vorsätzliche Tötung durch Überholmanöver

Der Beschwerdeführer überholte bei dichtem Nebel zwei Fahrzeuge. Dabei kollidierte er mit einem korrekt entgegenkommenden Motorrad, dessen Lenker in der Folge verstarb. Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung und die Freiheitsstrafe vom 5½ Jahre. Die Beschwerde wird abgewiesen.

E.1.3.2. zur Abgrenzung zw. Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit: Unterschiede bestehen hier lediglich auf der Willensseite des subjektiven Tatbestandes. Der bewusst fahrlässig handelnde Täter vertraut (aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit) darauf, dass der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg nicht eintreten, das Risiko der Tatbestandserfüllung sich mithin nicht verwirklichen werde. Demgegenüber nimmt der eventualvorsätzlich handelnde Täter den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr nur mit Zurückhaltung und in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass der Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat.

E. 1.4. Subsumption: Wer als Autofahrer im Nebel auf einer 80er Strecke bei ca. 50m Sichtweite zu einem Überholmanöver ansetzt, geht ein derart grosses Risiko eines Unfalles mit Todesfolge ein, dass er sich mit dem eingetretenen Erfolg, dem Tod einer Person, abfand und ihn in Kauf nahm.

Der Polizist als Raser

BGE 6B_1102/2016: Wenn Kojak den Ausweis verliert (Bestätigung der Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer ist Polizist und war im Januar 2014 mit einem Kollegen auf Patrouille in Genf. Als über Funk die Meldung reinkam, dass ein Autofahrer wie ein Verrücker auf dem Quai de Cologny unterwegs sei, schmiss der Beschwerdeführer die Polizeisirene an, trat das Gaspedal durch und fuhr mit bis zu 132km/h innerorts in Richtung des gemeldeten Autofahrers, um diesen abzufangnen. Dafür würde er von den kantonalen Instanzen als Raser verurteil, was vom BGer bestätigt wird.

E. 2. zum Rasertatbestand: Wird mit Raser-Geschwindigkeiten gefahren, so ist grds. von vorsätzlicher Begehung auszugehen, es sei denn es bestünden gegenteilige Indizien.

E. 3.-5. zur Sonderregelung für Polizisten: Gemäss Art. 100 Abs. 4 SVG ist ein Polizist nicht strafbar, wenn er beim Missachten von Verkehrsregeln alle Sorgfalt walten lässt, die nach den Umständen erforderlich ist. Der Beschwerdeführer bestreitet die Fahrt nicht. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die Voraussetzungen von SVG 100 IV erfüllt sind. Der Sinn der Regeln besteht darin, dass die Einsatzkräfte schnellstmöglich zum Einsatzziel gelangen können, sei es um Leben zu retten, sei es um Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwenden oder etwa um Flüchtige zu verfolgen. Die Dringlichkeit beurteilt sich anhand der bedrohten Rechtsgüter und inwiefern ein späteres Eintreffen der Einsatzkräfte eine Verletzung begünstigen würde. Der Beamte muss diese Begebenheiten ad hoc beurteilen und entsprechend handeln.

E. 6. zum Ergebnis: Die Vorinstanz erwägte, dass es nicht gerechtfertigt ist, die Gefährdung eines mutmasslichen Raserdelikts durch das Schaffen einer gleich grossen Gefahr verhindern zu wollen. Bereits in der Vergangenheit hat das BGer entschieden, dass noch so wertvolle Rechtsgüter nicht einen Geschwindigkeitsexzess rechtfertigen, der zu tödlichen Unfällen führen könnte (BGE 6B_7/2010 E. 2; BGE 6A.28/2003 E. 2.2.). Die Warnsignale der Einsatzfahrzeuge alleine reichen nicht aus, um Unfälle zu verhindern. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Strassen-, Sicht und Wetterverhältnisse ausgezeichnet waren. Nach Meinung der Richter besteht allerdings bei der gemessenen Geschwindigkeit eine dermassen hohe Gefahr für einen Unfall mit Toten, dass bei der Fahrt die von SVG 100 IV geforderte Sorgfalt nicht mehr an den Tag gelegt wurde. Die Bundesrichter bestätigen die Verurteilung des Polizisten zum Raser.

Auch in Uniform sollte man seine Computerspiel-Gewohnheiten also lieber zuhause lassen.

 

Kaskade nach Annullierung des FAP

BGE 1C_136/2017: Das ADMAS-Register vergisst nie (Grundsatzurteil)

Dem Beschwerdeführer wurde im März 2012 die Probezeit des FAP wegen einem FuD verlängert, im April 2013 wurde der FAP annulliert wegen einem Geschwindigkeitsdelikt. Im Februar 2015 wurde ihm der FAP erneut erteilt. Wegen einem FiaZ-Delikt wurde der FAP im März 2016 für 12 Monate entzogen, wobei das frühere FuD-Delikt nach der Kaskadenordnung berücksichtigt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt vor BGer einen dreimonatigen Warnentzug. Die Gretchenfrage lautet also: Überdauert die Kaskade die Annullierung des FAP und den Neubeginn der Ausbildung zum Autofahrer?

E. 2.: Zunächst äussert sich das BGer zu den Modälitäten des Führerausweises auf Probe (SVG 15a) und jenen zum Warnentzug (SVG 16ff.).

E. 3.1.-4. Prämisse: Umfassend ist das BGer der Frage nachgegangen, ob nun die Kaskadenregelungen in SVG 16ff. den „clean break“ einer FAP-Annullierung überdauert oder nicht. Die Vorinstanzen haben das FuD-Delikt aus dem Jahr 2012 im Rahmen der Kaskade berücksichtigt und trotz zwischenzeitlicher Annullierung die Mindestentzugsdauer von Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG zur Anwendung gebracht. Der Beschwerdeführer und das ASTRA hingegen sind der Meinung, dass „Widerhandlungen, die ein Inhaber eines ersten Führerausweises auf Probe begangen hat, bei der Festlegung der Dauer eines erneuten Ausweisentzugs wegen Widerhandlungen nicht mehr zu berücksichtigen, welche die gleiche Person mit einem zweiten Führerausweis auf Probe begeht“ (E. 3.1.). Der FAP stelle ein selbständiges gesetzgeberisches Konstrukt dar. Wird er annulliert, beginnt der Autofahrer quasi „von Neuem“, was logischerweise ein Nachteil ist. Als Privilegierung hingegen seien aber die Widerhandlungen, die zur Annullierung geführt hätten, nicht mehr zu berücksichtigen (E. 3.4.).

E. 3.5. Auslegung durch das BGer: Der Wortlaut hilft nicht weiter (E. 3.5.1.). Der Zweck des relativ strengen Mechanismus des FAP ist letztlich ein sichernde Massnahme (E. 3.5.2.). Keinen Sinn mache es, die erste Widerhandlung während der Probezeit in der Kaskade zu berücksichtigen, nicht aber jene, die zur Annullierung geführt hat. Das BGer kritisiert diese Begründung des StVA für nicht nachvollziehbar (E. 3.5.5.). Den Regeln zum FAP in Art. 15a SVG kommt eine gewisse selbstständige Bedeutung zu (E. 3.5.6.). In Bezug auf die Entzugsdauer ist sie aber nicht abschliessend. „Sie geht in diesem Sinne zwar der Kaskadenfolge von Art. 16c Abs. 2 lit. b-e SVG vor, nicht aber den übrigen Bestimmungen von Art. 16 ff. SVG. Das heisst, dass mit Ausnahme von Art. 16c Abs. 2 lit. a und a bis SVG einzig die verschiedenen Mindestentzugsdauern für den Ausweis auf Probe nicht vorbehaltlos gelten. Analoges mag für Art. 16a Abs. 2 sowie Art. 16b Abs. 2 SVG zutreffen, ohne dass hier darüber abschliessend zu befinden ist. Im Übrigen sind die Art. 16 ff. SVG jedoch auch auf die Ausweise auf Probe anwendbar. Das bedeutet insbesondere, dass die Kriterien für die Festsetzung der Entzugsdauer gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG mit Ausnahme der insofern nicht massgeblichen Mindestentzugsdauer uneingeschränkt Anwendung finden. Dazu zählen ohne Ausnahme auch die Widerhandlungen aus einer früheren Probezeit“ (E. 3.5.7.).

E. 4. Fazit: Zwar verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie die Entzugsdauer mit der Kaskade von Art. 16c Abs. 2 lit. b-e SVG begründet. Da allerdings auch ganz allgemein ergänzend auf Art. 16 Abs. 3 SVG verwiesen wurde, hat das BGer letztlich die Entzugsdauer dennoch gutgeheissen.

Beinahe hätte das ASTRA hier das BGer in Verlegenheit gebracht, indem es sich der Meinung des Beschwerdeführers anschloss. Da allerdings auch die „Grundregel“ von Art. 16 Abs. 3 SVG zur Begründung herangezogen wurde, konnte das BGer diesen jurstischen Spagat elegant meistern.