Braucht es bei der Atemalkoholmessung einen Toleranzabzug?

Urteile 7B_1386/2024 und 7B_1388/2024: Blas mal ins Röhrchen!

In diesen Urteilen beschäftigt sich das Bundesgericht mit Art. 20 VSKV-ASTRA bzw. mit der Frage, ob das ASTRA bestimmen darf, dass es bei Atemalkoholproben mit Test- und Messgeräten keine Abzüge geben darf. Die Vorinstanz verneinte diese Frage nämlich und führte aus, dass künftig bei Atemalkoholproben ein Abzug von 7.5% gemacht werden müsse. Das würde zu weitreichenden Änderungen in der Praxis insb. bei den Strafbehörden führen, wenn eine Atemalkoholprobe durchgeführt wird. Aber auch der Gesetzgeber hätte sich nochmals ans Reissbrett setzen müssen zur Re-Evaluation der gesetzlichen Grundlagen. Schon alleine deshalb dürften einige Leute diese Urteile mit Schweissperlen auf der Stirn erwartet haben.

Hört sich ziemlich dramatisch an…

In diesen Fällen geht es je um eine Fahrt in alkoholisiertem Zustand, wobei die gemessenen Atemalkoholproben mit 0.43 mg/L und 0.41 mg/L jeweils knapp qualifiziert ausfielen. In beiden Fällen sprach das Cour pénale du Tribunal cantonal de la République et canton de Neuchâtel die Betroffenen wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand gemäss Art. 91 Abs. 1 SVG schuldig. In beiden Fällen erhob die Staatsanwaltschaft Beschwerde mit dem Antrag, dass die Betroffenen wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand mit qualifizierter Atemalkoholkonzentration gemäss Art. 91 Abs. 2 SVG schuldig zu sprechen seien.

Die Vorinstanz begründete ihr Urteil damit, dass das ASTRA nicht befugt sei in Art. 20 VSKV-ASTRA zu regeln, dass bei Atemalkoholproben keine Abzüge vorzunehmen seien. Im Gegenteil, man müsse aus Sicht der Vorinstanz bei Atemalkoholproben ein Abzug von 7.5% machen. Dies führte bei 0.43 mg/L zu einem Ergebnis von 0.39 mg/l bzw. bei 0.41 mg/L zu 0.37 mg/L und damit auch zu der milderen Bestrafung nach Art. 91 Abs. 1 SVG.

Was folgt ist eine umfassende Auseinandersetzung des Bundesgerichts zu den gesetzlichen Grundlagen zur Atemalkoholprobe, auf welche wir hier äusserst summarisch eingehen.

Atemalkoholproben können bei Motorfahrzeugführern grundsätzlich ohne Anfangsverdacht angeordnet werden (Art. 55 Abs. 1 SVG). Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Voruntersuchungen (Abs. 2), das Vorgehen bei der Atemalkohol- und der Blutprobe, die Auswertung dieser Proben und die zusätzliche ärztliche Untersuchung der der Fahrunfähigkeit verdächtigten Person (Art. 55 Abs. 7 SVG). Der Bundesrat wiederum kann das ASTRA zur Regelung von Einzelheiten ermächtigen (Art. 106 Abs. 1 SVG). Diese Unterdelegation an das entsprechende Amt soll gewährleisten, dass die Gesetzgebung mit dem technologischen Wandel Schritt halten kann (zum Ganzen E. 3.3).

Im Folgenden hält das Bundesgericht fest, dass bei den Atemalkoholproben bereits eine Art Sicherheitsabzug vorgenommen wird, denn Studien haben festgestellt, dass insb. die Körpertemperatur der getesteten Person zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Die Test- und Messgeräte wurden also so eingestellt, dass es bei der Umrechnung der Werte nicht zu falschen Messresultaten kommen kann, damit niemand zu Unrecht bestraft wird (E. 3.4.1).

Die Kontrolle der Fahrfähigkeit erfolgt nach den Regeln von Art. 10 ff. der Strassenverkehrskontrollverordnung. Art. 9 Abs. 2 SKV regelt sodann übereinstimmend mit Art. 106 SVG, dass das ASTRA zusammen mit dem METAS die Anforderungen an die Messsysteme und Messarten sowie die technisch bedingten Sicherheitsabzüge regelt. Deshalb setzt sich das Bundesgericht auch noch mit den gesetzlichen Grundlagen zu den Messmitteln (Messmittelverordnung und Verordnung des EJPD über Atemalkoholmessmittel), worauf wir hier nicht weiter eingehen (E. 3.4.4 für Interessierte).

Nach diesem Ausflug in die Myriaden der gesetzlichen Grundlagen zur Atemalkoholprobe im Strassenverkehr kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der Meinung der Vorinstanz nicht gefolgt werden kann. Das ASTRA ist befugt, Regeln zur Atemalkoholmessung zu erlassen, insb. wenn Art. 9 Abs. 2 SKV explizit regelt, dass dies auch das Regeln von Sicherheitsabzügen umfasst. Nur so kann nach dem Willen des Gesetzgebers gewährleistet werden, dass der Gesetzgeber mit dem oft vorauseilenden technologischen Fortschritt Schritt halten kann.

Dass gemäss Art. 20 VSKV-ASTRA kein Sicherheitsabzug bei Atemalkoholproben vorgenommen werden darf, verstösst auch nicht gegen die Unschuldsvermutung. Das METAS garantiert mit der Eichung der Test- und Messgeräte dafür, dass diese einwandfrei funktionieren. Sodann wird nochmals daran erinnert, dass bei der Umrechnung der Atemalkoholprobe bereits eine Art von Sicherheitsabzug vorgenommen wird (s.o.). Betroffene Personen können immer auch eine Blutprobe verlangen, wenn sie der Atemalkoholprobe nicht trauen (Art. 12 Abs. 1 lit. d SKV). Und zum Schluss können Messergebnisse auch gemäss Art. 29 MessMV beanstandet werden.

Es besteht also eine genügende gesetzliche Grundlage dafür, dass das ASTRA regeln darf, dass bei Atemalkohlproben kein Sicherheitsabzug vorgenommen werden muss. Die Beschwerden der Staatsanwaltschaft werden gutgeheissen, womit wohl einigen Leuten in der Praxis ein Stein vom Herzen gefallen ist…

Strafzumessung bei Raserdelikten und weitere Urteile

Urteil 6B_733/2024: Welche Strafe darfs denn sein? (tlw. gutgh. Beschwerde)

Art. 90 Abs. 3ter SVG ist momentan das heisse Thema in der Rechtsprechung zum Strassenverkehrsstrafrecht. Das Bundesgericht entschied bereits im Urteil 6B_1372/2023, dass eine Strafmilderung nach Art. 90 Abs. 3ter SVG auch bei Neulenkern in Frage kommt, die noch keine 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis sind. Deshalb musste die Staatsanwaltschaftskonferenz ihre Empfehlungen zu Art. 90 Abs. 3ter SVG anpassen (vgl. dazu den Beitrag vom 24. Januar 2025). In diesem neuen Entscheid befasst sich das Bundesgericht intensiv damit, wie sich die allgemeinen Regeln der Strafzumessung (insb. Art. 41 und 47 StGB) auf Art. 90 Abs. 3ter SVG auswirken.

Dazu möchte ich wirklich mehr erfahren…

Der Beschwerdeführer wurde in erster Instanz wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen sowie einer Busse bestraft. Er überschritt die Höchstgeschwindigkeit innerorts um 53 km/h. Das Kantonsgericht VD hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gut und bestrafte den Beschwerdeführer mit einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr sowie einer Busse gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG. Der Beschwerdeführer ist Student, finanziell voll auf seine Eltern angewiesen und wohnt auch bei diesen. Er hat keine Vorbelastungen.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 90 Abs. 3ter SVG sowie Art. 47, Art. 41 und Art. 2 Abs. 2 StGB, also dem Grundsatz der lex mitior.

Das Bundesgericht führt zunächst aus, dass mit der Einführung von Art. 90 Abs. 3ter SVG per 1. Oktober 2023 das richterliche Ermessen bei der Bestrafung von Rasern erweitert wurde. Ziel dieser Regelung ist die Vermeidung von unnötigen Härtefällen. Da es sich um eine Kann-Vorschrift handelt, ist eine mildere Strafe nicht obligatorisch. Der Richter muss aber den erweiterten Strafrahmen dieser Bestimmung berücksichtigen, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind (E. 2.1.1).

Generell erfolgt die Strafzumessung nach dem Verschulden des Täters, wobei auch das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters zu berücksichtigen sind (Art. 47 Abs. 1 StGB). Bei der Strafzumessung steht den Gerichten ein grosses Ermessen zu, in welches das Bundesgericht nur mit zurückhaltung eingreift. Die Gerichte müssen bei der Festlegung der Strafe aber alle wesentlichen im Urteil aufführen, da ansonsten die Begründungspflicht verletzt wird (Art. 50 StGB). Das Gericht kann anstelle einer Geldstrafe eine Freiheitsstrafe anordnen, wenn eine Perpetuierungsgefahr besteht oder wenn die Geldstrafe voraussichtlich nicht bezahlt werden kann (Art. 41 Abs. 1 StGB). Wären sowohl eine Geld-, als auch eine Freiheitsstrafe angemessen, um dem Täter gemäss seinem Verschulden zu bestrafen, so ist grundsätzlich die Geldstrafe zu wählen, da dies verhältnismässiger ist (zum Ganzen E. 2.1.2). Wählt das Gericht die Freiheitsstrafe, muss es dies näher begründen (Art. 41 Abs. 2 StGB).

Die Vorinstanz begründete die Bestrafung damit, dass es das Motiv des Beschwerdeführers – die Freude am schnellen fahren – besonders verwerflich und sein Bewusstsein für das Fehlverhalten unzureichend war. Da der Beschwerdeführer die Widerhandlung als Inhaber eines Führerausweises auf Probe beging, stellte sich die Vorinstanz auf den Standpunkt, dass kein Härtefall vorliege und damit nicht von Art. 90 Abs. 3 SVG abgewichen werden muss. Die Vorinstanz ging zudem davon aus, dass der Beschwerdeführer als Student eine Geldstrafe nicht bezahlen könnte (E. 2.2).

Das Bundesgericht stellt fest, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG vorliegend erfüllt sind. Indem nun die Vorinstanz die Strafe nach Art. 90 Abs. 3 SVG festlegte, verletzte diese Bundesrecht, insb. wenn sie ausführte, dass sie an den Mindeststrafrahmen von einem Jahr gebunden sei. Dadurch verletzte sie die Regeln zur Strafzumessung. Die Vorinstanz hätte die Strafzumessung im erweiterten Strafrahmen von Art. 90 Abs. 3ter SVG vornehmen müssen. Bei der Wahl einer Freiheitsstrafe muss dies besonders begründet werden (Art. 41 Abs. 2 StGB). Indem die Vorinstanz generell auf das Mindeststrafmass verwies, verletzte sie ihre Begründungspflicht.

Die Sache wird zur Neubeurteilung der Strafe zurückgewiesen.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_374/2025: Widerruf einer bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe

Auch dieses Urteil befasst sich mit der Strafzumessung zum Thema Widerruf von bedingten Strafen. Der Beschwerdeführer ist ein notorischer Strassenverkehrstäter. Nur gut vier Monate nach einer bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe führte der Beschwerdeführer eine „Kontrollfahrt“ mit einem Motorrad durch, wodurch er mehrfach gegen das SVG verstiess (Fahren trotz Entzug, Fahren ohne MFH, Verwendung gefälschter Kontrollschilder usw.). Aus diesem Grund wurde die bedingte Entlassung gemäss Art. 89 StGB widerrufen und gemäss Art. 49 StGB eine Gesamtstrafe von fünf Monaten Freiheitsstrafe angeordnet. Voraussetzung dafür ist eine Schlechtprognose, also dass der Betroffene nicht anders von weiterer Delinquenz abgehalten werden kann (zum Ganzen ausführlich E. 4.4). Die Vorinstanz ging zu Recht davon aus, dass der Beschwerdeführer als notorischer Strassenverkehrstäter, der eine „eindrückliche Ignoranz gegenüber der geltenden Rechtsordnung“ zeigt, nicht durch bedingte Strafen von weiteren Taten abgehalten werden kann. Die Rückversetzung in eine Freiheitsstrafe erfolgte zu Recht. Wenn der Beschwerdeführer den Vollzug der Strafe im Rahmen eines Electronic Monitoring verlangt, muss er bei der Vollzugsbehörde ein Gesuch stellen (Art. 79b StGB).


Urteil 1C_168/2025: Die Trunksucht

Dieses Urteil bietet einen guten Überblick über die Rechtsprechung zum Thema Alkohol und Fahreignung. Die Fahreignung des Beschwerdeführers wurde nach einer Fahreignungsabklärung verneint und deshalb ein Sicherungsentzug angeordnet. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass nicht berücksichtigt worden sei, dass er noch nie gegen das Strassenverkehrsgesetz verstossen habe, was aus seiner Sicht im Gutachten nicht ausreichend gewürdigt wurde. In E. 4.1 fasst das Bundesgericht die Rechtsprechung vorbildlich zusammen. Die wichtigsten Punkte:

  • Wird die Fahreignung verneint, ist zwingend ein Sicherungsentzug anzuordnen.
  • Es liegt ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte vor.
  • Die Haaranalyse ist das probate Mittel, um Rückschlüsse auf den Alkoholkonsum zu ziehen.
  • Ab einem EtG-Wert von 30 pg/mg liegt ein übermässiger Alkoholkonsum vor.
  • Die Entzugsbehörde muss vor der Anordnung der Massnahme prüfen:
    – Persönlichen Verhältnisse
    – Fremdberichte
    – Aufarbeitung allfälliger Trunkenheitsfahrten
    – Alkoholanamnese
    – medizinische körperliche Untersuchung

    Vorliegend widersprachen sich die Ergebnisse der Haaranalyse (42 pg/mg) den Konsumangaben des Beschwerdeführers. Zudem gab die Hausärztin an, dass ein Alkoholüberkonsum bestehe. Insofern war das verkehrsmedizinische Gutachten schlüssig. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers erfolgte die Verneinung der Fahreignung nicht nur aufgrund der Haaranalyse. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer noch nie in fahrunfähigem Zustand Auto gefahren ist.

Von Empathie beim Telefonieren und fehlenden Unterlagen bei Geschwindigkeitsdelikten

Urteil 1C_672/2024: Das unfreundliche Telefonat

Egal ob beim Staat oder in der Privatwirtschaft, immer mal wieder hat man es mit nervigen Menschen zu tun. Ist ein Richter befangen, wenn ihn eine Prozesspartei nervt und er ein Telefonat etwas unprofessionell führt und unwirsch beendet?

Hier die Antwort:

Die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers wurde für einen Monat entzogen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel und ersuchte um unentgeltliche Prozessführung. Wegen Aussichtslosigkeit wurde das Gesuch abgewiesen. Die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht SG gutgeheissen und an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Im Laufe des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer mit Zwischenverfügung aufgefordert darzutun, wie er sich Ferien (2x 2 Wochen) leisten könne, wenn er finanziell in einer schlechten Lage sei. In dieser Abklärung erblickte der Beschwerdeführer eine «voreingenommene und unerhörte Gemeinheit in aller Form» und stellte ein Ausstandsbegehren gegen die verfahrensleitende Richterin beim Abteilungspräsident. Im Laufe des Verfahrens führte der Beschwerdeführer mit dem Abteilungspräsident ein Telefonat, bei welchem dieser dem Beschwerdeführer durch die Blume sagte, dass Telefonieren mit ihm mühselig sei («jetzt hanich das au mol dörfe erläbe, meh bringt Sie würkli chum usem Telefon…»). Natürlich erblickte der Beschwerdeführer auch darin eine Befangenheit und erhebt Beschwerde, nachdem die Vorinstanz urteilte, dass keine Ausstandsgründe vorlagen.

Bürgerinnen und Bürger haben in der Schweiz ein Recht auf ein faires Verfahren. Das bedingt natürlich, dass eine Sache durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht beurteilt wird (Art. 30 Abs. 1 BV). Die Unabhängigkeit eines Gerichtes bemisst sich nicht nach dem Empfinden der betroffenen Person, denn dann wären wahrscheinlich alle Gerichte befangen. Massgeblich ist, ob das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit in objektiver Weise begründet erscheint. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter oder die Richterin tatsächlich befangen ist (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Auch wenn der Richter im vorliegenden Fall aufgrund seiner Aussagen «genervt» erschien, kann daraus noch keine Befangenheit konstruiert werden. Der Beschwerdeführer erklärte selbst, dass er zuvor schon mehrere Male mit dem Sekretariat telefonierte. Das habe sich wohl herumgesprochen. Von einer Gerichtsperson wird seitens Bundesgerichts erwartet, dass sie unparteiisch urteilen kann, auch wenn sie sich über die Prozessführung einer Partei nervt (z.B. wegen unnötiger, zu langer oder repetitiver Eingaben). Auch wenn das Telefonat des Abteilungspräsidenten vlt. nicht besonders empathisch geführt wurde, er hängte einfach auf, war er deswegen noch nicht befangen (E. 3). Gleiches gilt für die verfahrensleitende Richterin, welche sich mit den Ferien des Beschwerdeführers befasste. Dieser selber gab gegenüber den Behörden an, dass er in den Ferien sei. Deshalb handelte es sich nicht um eine «infame Mutmassung» der Behörden, wenn diese genauere Abklärungen zu eben diesen Ferien treffen wollten (E. 4).


Urteil 6B_1057/2023: Fehlende Unterlagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung (gutgh. Beschwerde)

Es ist immer eine kleine Sensation, wenn eine Beschwerde bei einem Geschwindigkeitsdelikt gutgeheissen wird. Das Schnellfahren gehört zur absoluten Massendelinquenz und die Gerichte urteilen hier traditionell extrem zurückhaltend. Wenn aber zu einer Geschwindigkeitsmessung jegliche Unterlagen fehlen, reicht das für eine Verurteilung?

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Der Beschwerdeführer wurde mit einer Busse von CHF 600 bestraft, weil er innerorts das Tempolimit von 50 km/h um 22 km/h überschritten hatte. Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts. Einerseits moniert er, dass er nicht der Lenker war, auch wenn er sich auf dem polizeilichen Formular zur Lenkerermittlung als Halter und Lenker bezeichnete. Andererseits fehlen in den Akten das Messprotokoll sowie das Logbuch und die einwandfreie Funktionsfähigkeit des Messgerätes sei auch nicht erstellt. Damit ist die Geschwindigkeitsmessung aus Sicht des Beschwerdeführers nicht verwertbar.

Geschwindigkeitsmessungen erfolgen nach den Modalitäten von Art. 6 ff. VSKV-ASTRA. Die Messgeräte müssen geeicht (Art. 3 VSKV-ASTRA) und das Kontrollpersonal entsprechend geschult sein (Art. 2 VSKV-ASTRA). Zudem gibt es Weisungen des ASTRA zu Geschwindigkeitskontrollen, die aber kein Bundesgericht darstellen und die freie Beweiswürdigung der Gerichte unberührt lassen. Gemäss den Weisungen ist bei stationären bemannten Geschwindigkeitsmessungen ein Messprotokoll zu erstellen. Bei autonomen Geschwindigkeitsmessungen ist zusätzlich ein Logbuch zu führen. Das Bundesgericht hat wiederholt entschieden, dass Fehler in den Messprotokollen grundsätzlich nicht dazu führen, dass die Geschwindigkeitsmessung nicht als Beweis verwertet werden kann. Im vorliegenden Fall fehlen aber Messprotokoll, Logbuch sowie das Eichzertifikat des Messgeräts gänzlich. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz nicht davon ausgehen, dass das Messgerät einwandfrei funktionierte (E. 3.1-4 mit vielen weiteren Urteilen zur Thematik des korrekten Messprotokolls). Es war also willkürlich anzunehmen, dass der Beschwerdeführer zu schnell gefahren war.

Die Vorinstanz durfte aber immerhin davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt der Lenker war. Sie würdigte nicht nur die Angabe des Beschwerdeführers auf der Lenkerermittlung, dass er selber gefahren ist, sie setzte sich auch mit seinem Aussageverhalten auseinander (E. 3.5).

Da allerdings die Korrektheit der Messung nicht erstellt ist, wird die Beschwerde gutgeheissen.

Schluss mit Halterhaftung, Strafmilderung bei jungen Rasern

Heute widmen wir uns zwei französischen Urteilen des Bundesgerichts, die beide zur amtlichen Publikation vorgesehen sind. Mit einer Laienbeschwerde erhebt eine Person im Urteil 7B_545/2023 erfolgreich Beschwerde gegen eine Ordnungsbusse und im Urteil 6B_1372/2023 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Bestrafung von Rasern gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG.

Urteil 7B_545/2023: Halterhaftung gemäss Art. 7 Abs. 5 OBG (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil beantwortet die Frage, wo die Grenze der Halterhaftung im Ordnungsbussengesetzt zu finden ist. Wird das Verschuldensprinzip verletzt, wenn man eine Busse bezahlen muss, wenn klar feststeht, dass man als Halter selber nicht gefahren ist?

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen eine Ordnungsbusse von CHF 240, weil jemand ausserorts mit seinem Auto zu schnell gefahren ist. Er bringt vor, dass er an diesem Tag nicht gefahren ist, sondern sein Auto an vier Verwandte und einige Freunde ausgeliehen habe. Das sah übrigens auch das kantonale Gericht so, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass der Halter eines Fahrzeuges trotzdem gebüsst werden kann. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung und dem Verschuldensprinzip, denn nach der Ansicht der kantonalen Instanz verkäme Art. 7 Abs. 5 OBG zu einer reinen Kausalhaftung – Du bist Halter, Du bezahlst Busse.

Auch wenn es sich beim Ordnungsbussenverfahren um ein stark vereinfachtes Verfahren für mindere Straftaten handelt, sind die allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches anwendbar. Bei Ordnungsbusse im Strassenverkehr, muss der Halter eines Fahrzeuges, auch juristische Personen, die Busse bezahlen, wenn er in seiner Verantwortlichkeit als Halter nicht mithilft, die lenkende Person zu identifizieren. Die Bestimmung wurde u.a. explizit für Geschwindigkeitsüberschreitungen konzipiert, wo die lenkende Person nicht immer leicht zu identifizieren ist. Wir kennen alle die verschwommenen Fotos der Blitzkästen.

Die Regelung ist verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung sowie den Grundsatz des Verbotes des Selbstbelastungszwangs (vgl. BGE 144 I 242 E. 1).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von Entscheiden in der Vergangenheit darin, dass die kantonalen Instanzen explizit festgehalten haben, dass der Beschwerdeführer das Auto nicht lenkte. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob es mit dem Verschuldensprinzip zu vereinbaren ist, wenn jemand eine Ordnungsbusse bezahlen muss für eine Widerhandlung, die er klar nicht begangen hat.

Das Bundesgericht setzt sich sodann vertieft mit Art. 7 Abs. 5 OBG auseinander, insb. im Lichte des Grundsatzes nulla poena sine culpa. Auch wenn die Materialien dafür sprechen, dass einem Fahrzeughalter eine Busse ohne weiteres auferlegt werden kann, spricht sich die Lehre generell dafür aus, dass eine reine „Kausalhaftung“ das Verschuldensprinzip verstösst. Die strafrechtliche Verantwortung kann auch nicht auf eine andere Person übertragen werden. Auch die bisherige Rechtsprechung hält fest, dass keiner Person eine Ordnungsbusse auferlegt werden kann, nur weil sie formeller Halter eines Fahrzeuges ist.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass Art. 7 Abs. 5 OBG eine Norm mit verwaltungsrechtlichem Charakter ist. Sie enthält eine subsidiäre Pflicht des Fahrzeughalters, den Behörden mitzuteilen, wer mit seinem Fahrzeug herumdüst. Die Norm dient damit der Verkehrssicherheit, aber die Regel kann nicht als Grundlage für die Verhängung einer Strafe betrachtet werden.

Da es damit nicht möglich ist, dem Halter die Ordnungsbusse aufzuerlegen, schlägt das Bundesgericht vor, dass man wiederum unter Strafe stellen sollte, wenn der Fahrzeughalter die Identität der lenkenden Person nicht bekannt gibt.

Kleine Sidenote: Interessanterweise stellt es auch fest, dass es in der Schweiz eine solche Regelung noch nicht gäbe, obwohl genau diese Pflicht in §15 des Verkehrsabgabegesetzes des Kantons Zürich festgehalten ist. Widerhandlungen werden gemäss §18 mit Busse bestraft. Das Bundesgericht selber hat über diese Regelung befunden in Urteil 6B_680/2007 sowie Urteil 6B_512/2008.


Urteil 6B_1372/2023: Der gute Leumund gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG (amtl. Publ.)

Dieses Urteil gibt die Antwort darauf, ob für die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG vorausgesetzt ist, dass jemand tatsächlich seit 10 Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis ist oder nicht.

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Wegen einem Raserdelikt im Mai 2022 wurde der Beschwerdegegner (geb. 2001) zunächst mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten bestraft. Diese Sanktion wurde von der Berufungsinstanz in Genf unter Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG in eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen geändert. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdegegner das Raserdelikt mit einem Motorrad auf der Autobahn beging, ohne dass Dritte konkret gefährdet wurden. Zudem war sein verkehrsrechtlicher Leumund ungetrübt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde, Art. 90 Abs. 3ter SVG sei verletzt worden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG bei Personen, die weniger lange als 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis nicht angwendet werden kann, und schon gar nicht bei Inhabern eines Führerausweises auf Probe. So sehen es auch die Empfehlungen der SSK vor.

Gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG kann die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe nach einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung unterschritten werden, wenn der Täter nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde. Vorliegend kommt der Grundsatz der lex mitior zur Anwendung, weil die am 1. Oktober 2023 eingeführte Bestimmung von Art. 90 Abs. 3ter SVG eine mildere Bestrafung von Rasern ermöglicht.

Da sich das Bundesgericht bis heute noch nicht vertieft mit Art. 90 Abs. 3ter SVG auseinandergesetzt hat, beschäftigt es sich nun vertieft mit der Norm nach dem Methodenpluralismus, aber natürlich ausgehend vom Gesetzestext und insb. wie die Zeitperiode von 10 Jahren vor der Tat zu verstehen ist.

Die Lehre sieht, in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, dass die Regel von Art. 90 Abs. 3ter SVG zu einer Ungleichbehandlung abhängig des Alters der betroffenen Person führt. Trotzdem lehnt sie die Empfehlungen der SSK ab, weil sie dem klaren Wortlaut der Bestimmung widersprechen. Den Materialen ist zu entnehmen, dass – nach einem politischen Hickhack – die Norm eingeführt wurde, damit die Gerichte bei der Bestrafung von Rasern ein grösseres Ermessen haben.

Auch wenn das Bundesgericht erkennt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG einige Probleme mit sich bringt (insb. bzgl. dem Alter der lenkenden Personen), hält es fest, dass der Gesetzgeber den Gerichten einen grösseren Ermessensspielraum einräumen wollte bei der Sanktionierung von Rasern. Auch der klare Text der Bestimmung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich eine Fahrberechtigung hatte. Das macht auch Sinn, denn eine Person kann auch ohne Fahrberechtigung gegen das SVG verstossen.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Und die SSK muss wohl über die Bücher und ihre Empfehlungen anpassen.

Katalogtatbestände und Gegenstandslosigkeit

Urteil 1C_445/2024: Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wann darf ein Verfahren abgeschrieben werden?

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Der Beschwerdeführer leidet aus Sicht der Entzugsbehörde an einer Fatigue-Erkrankung sowie kognitiven Einschränkungen. Aus diesem Grund forderte die Behörde ein Arztzeugnis, welches sich bestenfalls auch zur Fahreignung äussert. Der Beschwerdeführer reagierte darauf nicht. Aus diesem Grund ordnete die Entzugsbehörde die Auflage an, dass der Beschwerdeführer ein Arztzeugnis einreichen muss. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel. Ein Arztzeugnis reichte er aber trotzdem nicht ein, weshalb ihm der Führerausweis vorsorglich entzogen wurde. Das Verwaltungsgericht schrieb wegen dem vorsorglichen Entzug das Verfahren bzgl. Auflage wegen Gegenstandslosigkeit ab. Um diese Abschreibung dreht sich der vorliegende Entscheid.

Ein Rechtsstreit kann gegenstandslos werden (z.B. Abbrennen des Hauses, für das eine Umbaubewilligung streitig ist) oder das rechtliche Interesse an seiner Beurteilung dahinfallen. Ausschlaggebend für die Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit ist immer, dass im Verlauf des Verfahrens eine Sachlage eintritt, angesichts derer ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung der Streitsache nicht mehr anerkannt werden kann (E. 4.1).

Da der Beschwerdeführer auch gegen den vorsorglichen Entzug seines Führerausweises Beschwerde erhoben hat, ist dieses Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Wenn man das Verfahren zu den Auflagen nun endgültig abgeschreiben und der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel gegen den vorsorglichen Entzug durchdringen würde, müsste man ihm die Fahrerlaubnis wieder erteilen, ohne dass noch Auflagen bestünden. Es gäbe – zumindest vorübergehend – keine Sicherungsmassnahmen mehr. Das ist aber nicht im Sinne der Verkehrssicherheit. Aus diesem Grund darf noch kein Abschreibungsentscheid ergehen.

Die beste Lösung wäre es gewesen, das Verfahren bzgl. Auflagen bis zum Abschluss des Verfahrens zum vorsorglichen Führerausweis-Entzug zu sistieren.

Vorsicht Meinung: Prozessieren um jeden Preis? Der Beschwerdeführer gewinnt seine Laienbeschwerde. Er kann sich damit brüsten, den „Behörden eines ausgewischt zu haben“. Doch betrachtet man diese Sache etwas genauer, hat sich der Beschwerdführer selber ein Ei gelegt. Würde seine Beschwerde gegen den vorsorglichen Führerausweis-Entzug überraschenderweise gutgeheissen, wäre er – zumindest für eine Weile – ohne Massnahmen gewesen. Doch mit seiner Beschwerde hat er selber dafür gesorgt, dass die Auflagen nicht ganz verschwinden. Prozessieren um jeden Preis ist eben auch nicht immer das Richtige.


Urteil 1C_546/2024: Katalogtatbestände und die rechtliche Würdigung

Was passiert, wenn ein Strafverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt wird, aber trotzdem ein Katalogtatbestand von Art. 16ff. SVG erfüllt ist?

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Die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wurde im November 2021 für unbestimmte Zeit entzogen. Im August 2023 lenkte sie das Fahrzeug Ihres Vaters trotz dieses Entzuges. Der Polizei gab sie an, dass sie dachte, wieder fahren zu dürfen, weil eine verkehrsmedizinische Begutachtung positiv ausgefallen war. Aufgrund der Widerhandlung wurde die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wiederum für unbestimmte Zeit entzogen und eine verkehrspsychologische Fahreignungsabklärung angeordnet. Interessanterweise wurde das Strafverfahren wegen Fahrens trotz Entzug wegen Geringfügigkeit gemäss Art. 52 StGB eingestellt.

Allseits bekannt: Die Entzugsbehörde ist grds. an die im Strafverfahren erfolgten Sachverhaltsfeststellungen gebunden, in der rechtlichen Würdigung hingegen ist sie frei (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin lenkte unbestrittenermassen zweimal ein Fahrzeug trotz entzogener Fahrerlaubnis. Der Tatbestand von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG war damit objektiv sowie subjektiv erfüllt (E. 2.2.2 f.). Die Beschwerdeführerin gibt an, dass sie wegen der Auskunft des Verkehrsmediziners, der ihre Fahreignung bejahte, dachte, dass sie wieder Autofahren dürfe. Auf einen Rechtsirrtum konnte sich die Betroffene nicht berufen, da sie bereits in der Vergangenheit mit Warnungsmassnahmen konfrontiert war und den Verfahrensablauf kennen müsste. Zudem hat das Bundesgericht wiederholt festgehalten, dass auch in leichten Fällen von Fahren trotz Entzug die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden kann (E. 2.3).

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wohl der Begründungspflicht, weil die Entzugsbehörde in ihrer Verfügung lediglich festhielt, dass diese von den Stellungnahmen der Beschwerdeführerin „Kenntnis genommen“ hat. Sie gibt aber selber zu, dass eine solche Gehörsverletzung im Verlauf des Verfahrens geheilt wurde (E. 3). Sie argumentiert weiter, dass die 24-monatige Mindestentzugsdauer von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG für den vorliegenden Vorfall viel zu streng sei und damit Art. 6 EMRK verletze. Das Bundesgericht entgegnet dazu, dass es einerseits an die gesetzliche Bestimmung gebunden ist (Art. 190 BV) und dass Art. 6 EMRK bei Sicherungsmassnahmen grds. keine Anwendung findet (E. 4).

Auch wenn im Strafverfahren eine Einstellung nach Art. 52 StGB erfolgte, war der Tatbestand des Fahrens trotz Entzug erfüllt. Folglich blieb der Entzugsbehörde keine andere Wahl, als die nächste Sicherungsmassnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG anzuordnen.


Bonus-Urteil

Urteil 1C_635/2023: Ausserortscharakter innerhalb von Basel-Stadt?

An einem wunderschönen Eckchen in Basel überschritt der Beschwerdeführer das Tempolimit von 50 km/h um 26 km/h, weshalb seine ausländische Fahrerlaubnis für drei Monate aberkannt wurde. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kontrollort Ausserortscharakter aufweise. Ob ein Kontrollort Ausserortscharakter aufweist, beurteilt sich immer anhand des Einzelfalles. Vorliegend passierte der Beschwerdeführer Häuser, unübersichtliche Kreuzungen, Fussgängerstreifen und wunderschöne Basler Betonlandschaften. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht auf einer Ausserortsstrecke befand. Die Massnahme war korrekt.

Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

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Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.

Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Zwei neue Urteile im Massnahmenrecht

Urteil 1C_434/2023: Ist die Fahreignungsabklärung eine vorsorgliche Massnahme? (wird amtl. publ.)

In diesem Urteil beantwortet das Bundesgericht die Frage, ob eine Fahreignungsabklärung ohne vorsorglicher Entzug unter Art. 98 BGG subsumiert wird oder nicht.

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Der Beschwerdeführer verursachte in der Berner Altstadt einen Selbstunfall, bei welchem sein Fahrzeug erheblich beschädigt wurde (z.B. Achsenbruch). Danach fuhr er noch mehr als einen Kilometer weiter, missachtete ein „Einfahrt Verboten“ Signal und stellte sein Fahrzeug im Parkverbot ab. Er habe einen wichtigen Termin gehabt. Das Strassenverkehrsamt ordnete deswegen eine Fahreignungsabklärung der Stufe 3 an.

Zunächst klärt das Bundesgericht eine Grundsatzfrage, nämlich ob eine Fahreignungsabklärung auch unter die vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 98 BGG fällt. Die Frage hat sich bis heute nicht gestellt, weil die Fahreignungsabklärung in der Regel mit einem vorsorglichen Entzug kombiniert wird. Nach einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (E. 2.3) sowie den Materialien zum BGG (E. 2.4) kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Abklärungen nach Art. 15d SVG ebenfalls Art. 98 BGG zu unterstellen sind. Gerügt werden können also nur verfassungsmässige Rechte.

Trotzdem, damit der Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt wird, aber wohl auch letztmalig prüft das Bundesgericht, ob die Anordnung der Fahreignungsabklärung gegen Bundesrecht verstiess.

Fahreignungsabklärungen, die aufgrund von Art. 15d SVG angeordnet werden, müssen von einer verkehrsmedizinischen Fachperson der Stufe 3 oder 4 durchgeführt werden (Art. 28a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a und b VZV). Für die Anordnung müssen Zweifel an der Fahreignung bestehen. Diese lagen in diesem Fall vor. Der über 80-jährige Beschwerdeführer schien nach dem Unfall sein Ziel, nämlich ein Zahnarzttermin mit einem „geistigen Röhrenblick“ zu verfolgen. Gemäss dem Leitfaden zur Fahreignung kann ein deutlich auffälliges Verhalten im Verkehr Indiz einer hirnorganischen Krankheit sein. Dass sich der Beschwerdeführer nach dem Unfall nicht um den Schaden kümmerte, sondern unbeirrt zu seinem Zahnarzttermin fuhr, liess sich auch nicht durch Alkohol oder Betäubungsmittel erklären. Deshalb durfte aufgrund des Unfalles an der Fahreignung gezweifelt werden, auch wenn die letzte Kontrolluntersuchung erst fünf Monate her war.


Urteil 1C_431/432/2024: Interbehördliche Zusammenarbeit und Verletzung des rechtlichen Gehörs (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil befasst sich das Bundesgericht mit den Konsequenzen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, die ihren Ursprung in einem parallel laufenden Strafverfahren hat.

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Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen die Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Grund für die Massnahme war ein mutmasslicher Kokainkonsum in Zürich. Die Anordnung wurde mit dem Hinweis verbunden, dass ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis erfolgen würde, wenn die Abklärung nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführt wird. Die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Rechtsmittels wurde in der Verfügung entzogen. Das Verwaltungsgericht Kt. GR wies sowohl ein Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Zudem verwies es mit weiterer Verfügung die Beschwerdeführerin an die Strafbehörden des Kantons Zürich, wenn sie umfassende Akteneinsicht wünscht. Die Beschwerde richtet sich gegen diese Verfügungen. Zwischenzeitlich wurde der Führerausweis im Juli 2024 vorsorglich entzogen. Auch dagegen erhob die Betroffene Beschwerde beim Verwaltungsgericht.

Gegen Zwischenentscheide im kantonale Verfahren kann beim Bundesgericht nur Beschwerde geführt werden, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Wenn eine Rüge nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs betrifft, dann ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Da aber im vorliegenden Fall die Fahrerlaubnis bereits entzogen wurde, liegt gemäss dem Bundesgericht ausnahmsweise ein solcher Nachteil vor, weshalb auf die Beschwerde eingetreten wird.

Wer gelegentlich Kokain konsumiert, kann zu einer Fahreignungsabklärung verpflichtet werden. Keine Zweifel bestehen dann, wenn nur ein einmaliger Konsum ohne Konnexität zum Strassenverkehr vorliegt (ausführlich dazu E. 2). Im vorliegenden Fall wurde die Fahreignungsabklärung angeordnet, weil die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Strafanzeige angab, zwischen 2018 und 2023 regelmässig Kokain konsumiert zu haben. Dies habe sie allerdings in späteren Aussagen relativiert. Da aber sowohl die Strafbehörden des Kantons Zürichs wie auch die Vorinstanz die weiteren Akten des Strafverfahrens nicht herausgaben, die das belegt hätten, liegt aus ihrer Sicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Das Bundesgericht bejaht dies ebenfalls, denn die Akteneinsicht wird vom Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst (E. 3.2). Die Vorinstanz hätte die Akten des Zürcher Strafverfahrens beiziehen müssen zur Beurteilung der Zweifel an der Fahreignung, da mit dem vorsorglichen Entzug der Fahrerlaubnis ein nicht wieder gut zu machender Nachteil drohte (E. 3.3).

Eine weitere Gehörsverletzung erblickt das Bundesgericht in dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Die Unterlagen, die sie erhielt, äusserten sich gar nicht zum Betäubungsmittelkonsum, weshalb die Anordnung der Fahreignungsabklärung auch nicht wirklich nachvollzogen werden konnte. Der Rechtsvertreter erhielt im Strafverfahren übrigens keine Akteneinsicht, weil noch keine Einvernahmen stattfanden (vgl. Art. 101 Abs. 1 StPO).

Das BGer heisst die Beschwerde(n) gut.

Dieses Urteil zeigt auf, welche negativen Konsequenzen die Abhängigkeit zwischen Straf- und Administrativverfahren für betroffene Personen haben kann. Die Beschwerdeführerin benötigte Unterlagen aus dem Strafverfahren, die sie aber nicht erhielt. Eine strenge Handhabung des Akteneinsichtsrechts im Strafverfahren kann also zu einem Nachteil im Verwaltungsverfahren führen.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Rückblick: Tödlicher Unfall und Entscheide zur Geschwindigkeit

Die erste Strafkammer des Bundesgerichts hat wieder mal Vollgas gegeben und es sind einige neue Entscheide ergangen. Diesen Urteilen widmen wir uns hier aus Zeitgründen in teilweise stark zusammengefasster Form.

Urteil 6B_16/2023: Fahrlässige Tötung oder qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bei krassen Verkehrsdelikten. Die Beschwerde der beschuldigten Person bzgl. Strafmass wird zudem gutgeheissen.

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Dieses Urteil befasst sich mit einem tödlichen Verkehrsunfall. Der Betroffene überholte im Januar 2017 unter dem Einfluss von THC wegen einem am Vorabend gerauchten Joints auf der Kantonsstrasse zwischen Chur und Domat/Ems zwei andere Fahrzeuge. Dabei übersah er einen Motorroller, kollidierte mit diesem. Die Lenkerin des Rollers starb noch auf der Unfallstelle. Von der ersten Instanz noch wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, änderte das Kantonsgericht GR dieses Urteil auf Berufung hin u.a. auf fahrlässige Tötung. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Sie beantragt, dass der Beschwerdegegner wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung schuldig zu sprechen sei. Aus ihrer Sicht hat der Beschwerdegegner den Tod der Rollerfahrerin in Kauf genommen. Auch der Betroffene erhebt Beschwerde bzgl. dem Strafmass.

Das Bundesgericht setzt sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit (E. 2.2.2) sowie den Strassenverkehrsregeln zum Überholen (E. 2.2.3) auseinander. Es hält auch daran fest, dass Eventualvorsatz bei Unfällen mit Todesfolge nur zurückhaltend und in krassen Fällen anzunehmen ist. Es muss sich aus den Einzelfallumständen ergeben, dass sich der oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (E. 2.2.4). Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass hinter dem Motorroller noch ein weiteres Fahrzeug dem Beschwerdegegner entgegen fuhr. Für ihn „verschmolzen“ die beiden Fahrzeuge optisch in der Morgendämmerung. Da der Beschwerdegegner die Rollerfahrerin in pflichtwidriger Weise nicht wahrgenommen hat, entschied er sich im Lichte der Rechtsprechung nicht gegen Leib und Leben. Er handelte nicht eventualvorsätzlich (zum Ganzen ausführlich E. 2.4). Auch die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft werden abgelehnt. Sie machte geltend, dass das Überholmanöver auch gegenüber den überholten Fahrzeugen eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung war. Das Bundesgericht bestätigt aber den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung (E. 3).

Gutgeheissen wird aber die Beschwerde des Betroffenen. Er wurde mit einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten bestraft. Aus Sicht des Bundesgerichts begründete die Vorinstanz diese hohe Strafe zu wenig. Zudem wurde die lange Verfahrensdauer bzw. eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt (E. 5).


Urteil 6B_1065/2023: Regeln zur Nachfahrmessung ohne kalibriertes Messsystem

Dieses französische Urteil setzt sich exemplarisch mit den Regeln zur Geschwindigkeitskontrolle gemäss Art. 6ff. der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA) auseinander, insb. welche Regeln bzgl. der Nachfahrmessung nach Tacho gelten und wann ein „massiver“ Fall gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorliegt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung. Gemäss einer polizeilichen Nachfahrmessung fuhr er auf einer Autostrasse mit Tempolimite 80 km/h auf einer Strecke von 200 Metern gemäss Tacho des Polizeifahrzeuges mit 145 km/h. Abzugsbereinigt ergab sich daraus eine gefahrenes Tempo von 122 km/h bzw. Geschwindigkeitsüberschreitung von 42 km/h. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass 200m für eine Nachfahrmessung nicht ausreichend seien.

Art. 6 VSKV-ASTRA listet die Messarten auf, welche grundsätzlich für die Messung von Fahrzeug-Geschwindigkeit zu verwenden sind. Die Nachfahrmessung ist eine davon (lit. c Ziff. 2). Gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA sind Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem auf Fälle von massiver Geschwindigkeitsüberschreitung zu beschränken. Die Regeln zu Geschwindigkeitsmessungen werden wiederum durch die „Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ konkretisiert. Gemäss Kapitel 20 muss nach Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem zunächst die Genauigkeit des Tachos des Polizeifahrzeuges geprüft und danach noch der Abzug gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. i VSKV-ASTRA vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, welche das Gericht nicht binden (E. 1.1.4). Knackpunkt ist vorliegend, dass die Weisungen unter Ziff. III.10.1 sagen, dass bei Nachfahrkontrollen u.a. eine genügend lange Messstrecke vorausgesetzt ist, wobei sie auf Anhang 1 der VSKV verweist. Bei 200m ist dort kein Sicherheitsabzug angegeben.

Die kantonalen Instanzen waren der Meinung, dass 200m als Strecke für eine Nachfahrmessung ausreichen, auch weil die Weisungen des ASTRA nicht verbindliches Recht sind und das Gericht die Beweise frei würdigen kann. Der Beschwerdeführer sieht das natürlich diametral anders. Insb. die Messtrecke von nicht mal 200m sei zu kurz, weshalb diese Messung nicht verwertet werden dürfe.

Zunächst hält das Bundesgericht fest, dass Anhang 1 der VSKV-ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. h vs. lit i; E. 1.4.1). Ebenfalls stellt es klar, dass Ziffer III.10 der Weisungen des ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist, sondern nur die Regeln in Ziffer III.20. Entgegen den Vorbringen braucht es keine Mindeststrecke für die Messung und das Gericht muss die Beweise frei würdigen (E. 1.4.2).

Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass keine massive Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorläge. Aus seiner Sicht kann es sich bei dieser Formulierung nur um Raserdelikte handeln. Dem widerspricht das Bundesgericht. Es geht hier darum „wichtige Fälle“ von Geschwindigkeitsdelikten zu erfassen. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, die Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% überschreitet und eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Voraussetzungen eines „wichtigen“ bzw. massiven Falles erfüllt (zur ausführlichen Auslegung E. 2.4).


Urteile 6B_13-16/2024: Wo steht denn hier ne Tafel? (gutgh. Beschwerde)

Diese Urteile wurden auch schon in der Presse erwähnt, z.B. 20min. Es geht um eine Geschwindigkeitstafel bei einer Baustelle am Kerenzerberg, die nach Ansicht des Obergerichts Kt. GL so platziert war, dass sie von den Verkehrsteilnehmern nicht habe wahrgenommen werden können. Das Bundesgericht sieht das anders, weshalb wohl ca. 600 geblitzte Motorfahrzeugführer ihre Busse doch bezahlen müssen.

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Wir machen es hier besonders kurz: Signale müssen von den Verkehrsteilnehmern beachtet werden (Art. 27 Abs. 1 SVG). Das geht soweit, dass man auch rechtswidrig aufgestellte Signale (z.B. wenn Signale nicht ordentlich gemäss Art. 107ff. SSV veröffentlicht wurden) beachten muss. Signale vermögen Fahrzeuglenker nur zu verpflichten, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie leicht und rechtzeitig erkannt werden können. Der Standort von Signalen richtet sich nach Art. 103 SSV.

Die fragliche Signaltafel zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 50 km/h stand im vorliegenden Fall am rechten Strassenrand etwas nach der Mitte einer Haarnadelkurve. Die Vorinstanz war der Meinung, dass insb. Motorradfahrer beim Befahren einer Linkskurve ihren Blick auf die weiterführende Strasse und nicht auf den rechten Fahrbahnrand richten. Zudem spreche der Umstand, dass ca. ein Viertel aller kontrollierten Lenker zu schnell waren, dafür, dass die Tafel schlecht sichtbar war. Das Bundesgericht sieht das anders. Die Tafel sei schon von weitem ersichtlich gewesen und auch wenn sie rechtswidrig aufgestellt worden wäre, hätte die Signalisationstafel wegen dem Vertrauensgrundsatz trotzdem beachtet werden müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.


Urteil 6B_731/2022: Das trügerische Radarfoto (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Fall wehrt sich der Beschwerdeführer gegen die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz verfiel in Willkür, als sie davon ausging, dass das Radarfoto den Beschwerdeführer zeige.

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Vorliegend geht es um eine Tempoüberschreitung von 22 km/h innerorts, also um eine einfache Verkehrsregelverletzung bzw. eine Übertretung. Das Bundesgericht prüft hier, ob der Sachverhalt von der Berufungsinstanz willkürfrei festgestellt wurde (Art. 398 Abs. 4 StPO).

Der Beschwerdeführer bestreitet, das Auto im Zeitpunkt der Verkehrsregelverletzung gefahren zu sein. Das Radarfoto zeigt eine männliche Person mit einer Gesichtsmaske. Im Verlaufe des Verfahrens musste der Beschwerdeführer Passfotos sämtlicher männlicher Mitarbeiter einreichen, die mit dem geblitzten Auto fahren durften. Das erstinstanzliche Gericht stellte zunächst fest, dass anhand der Passfotos nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob der Beschwerdeführer selber gefahren sei. Bei der Hauptverhandlung war das Gericht allerdings der Meinung, ihn anhand eines Passfotos als Lenker erkannt zu haben. Dieses Passfoto zeigte aber den Bruder des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Damit wurde der Sachverhalt aber willkürlich festgestellt. Die Sache wird zurückgewiesen.