Arbeitgeber aufgepasst! Die Pflichten beim Überlassen eines Fahrzeugs…

Urteil 6B_819/2023: Vorsicht bei ausländischen Fahrberechtigungen mit Ablaufdatum

Mit etwas Verspätung widmen wir uns diesem französischen und zur Publikation vorgesehenen Urteil, in welchem sich das Bundesgericht ausgiebig mit den Pflichten auseinandersetzt, die Arbeitgeber, Flottenverantwortliche, aber auch alle anderen treffen, wenn sie einer Person ein Auto überlassen. Es ist ein wichtiger Entscheid, weil er besonders für Arbeitgeber relativ streng ist.

Streng? Unser Bundesgericht? Nicht doch…

Der Beschwerdeführer wurde mit Geldstrafe von 10 Tagessätzen bestraft, weil er einem Arbeitnehmer ein Auto zur Verfügung stellte, obwohl dieser nicht fahrberechtigt war. Als er diesen im Juli 2019 anstellte, kontrollierte er in branchenüblicher Weise dessen spanische Fahrerlaubnis. Die neu angestellte Person äusserte sich nicht weiter dazu und der Beschwerdeführer übersah, dass spanische Führerausweise ein Ablaufdatum haben. Im Januar 2021 wurde der Arbeitnehmer von der Polizei kontrolliert. Diese stellte fest, dass der spanische Führerausweis im Dezember 2020 abgelaufen ist.

Die Bestrafung erfolgte gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. e SVG. Strafbar macht sich, wer ein Motorfahrzeug einem Führer überlässt, von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass er den erforderlichen Ausweis nicht hat. Das Bundesgericht befasst sich zunächst mit dem Begriff des «Überlassens», weil dieser gemäss der Lehre nicht überall gleich verstanden wird.

Der Begriff des Überlassens (E. 3.1)

Überlassen enthält gemäss Bundesgericht ein «aktives Element». Meistens erfolgt das Überlassen durch das Übergeben eines Fahrzeugschlüssels, einem Badge oder ähnlichem. Das Überlassen setzt aber zusätzlich auch das Einverständnis des Überlassenden voraus, dass die fahrzeugführende Person dieses auch fahren darf bzw. berechtigterweise über das Fahrzeug verfügt. Meistens impliziert die Übergabe eines Fahrzeugschlüssels dieses Einverständnis. Es kann aber auch Konstellationen geben, wo man den Schlüssel nur gibt, um etwa die Einkäufe aus dem Auto zu holen. Schliesslich fällt die Übergabe eines Autos wegen Kauf oder Leasing nicht unter den Tatbestand. Ebenfalls eher nicht unter den Begriff des Überlassens fällt es, wenn ein Vater seinen Autoschlüssel zuhause nicht versteckt, obwohl er weiss, dass der Führerausweis des Sohnes entzogen ist. Im beruflichen Umfeld wäre das sowieso nicht umsetzbar, wenn z.B. alle Fahrzeugschlüssel des Fuhrparks an einem «Schlüsselbrett» hängen und nur ein Mitarbeiter nicht fahrberechtigt ist. Der Chef kann dann nicht alle Schlüssel verstecken.

Was gibt es für Konstellationen? (E. 3.2)

Festzustellen, ob eine Person fahrberechtigt ist, stellt in der Praxis in aller keine Schwierigkeit dar. Man lässt sich den Ausweis zeigen und gut ist. Vorbildlich beschäftigt sich das Bundesgericht mit einer Vielzahl an weiteren Fall-Konstellationen und eruiert, ob diese für das Überlassen massgeblich sind, oder nicht.

Nicht massgeblich ist, ob

  • die an sich fahrberechtigte Person den Führerausweis dabei hat. Das ist lediglich eine Ordnungsbusse von CHF 20 (Bussenliste Ziff. 1.100.1).
  • sich die fahrberechtigte Person an Beschränkungen gemäss Art. 34 VZV oder eine Brillenauflage hält.
  • der Führerausweis auf Probe abgelaufen ist (mit Verweis auf Art. 95 Abs. 2 SVG), da die Betroffene Person grds. fahren kann und die Erteilung des definitiven Ausweises von einer Formalität abhängt.

Massgeblich ist hingegen, ob

  • der Führerausweis entzogen wurde.
  • der Führerausweis auf Probe annulliert wurde, da dies mit einem Führerausweis-Entzug vergleichbar ist.

Offen bleibt, ob

  • Der Überlassende prüfen muss, ob die fahrberechtigte Person nur ein Auto mit spezieller Ausstattung fahren darf.

Berechtigung vs. Kontrolle der Berechtigung (E. 3.3)

Im Folgenden befasst sich das Bundesgericht eingehend damit, dass man unterscheiden muss zwischen der Berechtigung zum Autofahren und der Kontrolle, ob diese Berechtigung vorliegt oder entzogen ist. Um es kurz zu halten, die Polizei kann bei Schweizer Ausweisen sofort nachschauen, ob die Fahrberechtigung besteht (im sog. FABER). Beim Inhaber einer ausländischen Fahrberechtigung geht das wiederum nicht. Wenn eine Person aus dem Ausland keinen Führerausweis vorweisen kann, so ist das kein Fall von Nicht Mitführen des Führerausweises, sondern die Person gilt als nicht fahrberechtigt.

Was ist konkret zu tun? (E. 3.5)

Der Tatbestand kann auch fahrlässig erfüllt werden. Das Bundesgericht befasst sich folglich damit, wie weit die überlassende Person bzw. ein Arbeitgeber die Fahrberechtigung kontrollieren muss. Grundsätzlich muss sich die überlassende Person vergewissern, dass die berechtigte Person einen gültigen Ausweis hat.

Grundregel: Ausweis zeigen lassen!

Wie eingehend die Kontrolle sein muss, ist abhängig davon, in welcher Beziehung man zur betroffenen Person steht (Familie, Kollegen, Arbeitnehmer, Car-Sharing usw.). Im beruflichen Rahmen kann man das in etwa so zusammenfassen:

  • Bei einer Neuanstellung muss man sich das Ausweisdokument vorzeigen lassen.
  • Bei gelegentlichen Fahrten reicht nach längerer Anstellung auch ein mündliches Nachfragen aus.
  • Bei Berufsfahrern wiederum, muss der Flottenchef nicht jeden Tag neu nachfragen. Er darf darauf vertrauen, dass die Arbeitnehmer sich melden, wenn sie einen Führerausweis-Entzug haben.

Im vorliegenden Fall…

…geht es um ein KMU, bei welchem Berufsfahrer täglich unterwegs sind. Es herrscht ein Klima des Vertrauens im Geschäft. Grds. muss also nicht jeden Tag nachgefragt werden, ob jemand nicht mehr fahrberechtigt ist.

Nun kommt das grosse ABER: Vorliegend wurde dem Arbeitgeber eine ausländische Fahrberechtigung mit einem Ablaufdatum vorgelegt bei der Neuanstellung. Auch wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass es in der Schweiz so etwas (zumindest beim definitiven Führerausweis) nicht gibt, hätte er erkennen müssen, dass er seinen Arbeitnehmer (oder allenfalls die ausländische Behörde) darauf hätte ansprechen müssen, ob die Fahrberechtigung rechtzeitig erneuert wurde.

Fazit nach langem Übersetzen: Arbeitnehmer müssen insb. bei ausländischen Führerausweisen auch das Ablaufdatum beachten und sich am besten einen Outlook-Termin machen, damit man das Nachhaken nicht vergisst.

Bonus-Urteile im Kurzformat

Urteil 1C_321/2025: Die verwirrte Prüfungsfahrt

Nach einer Fahrprüfung meldete sich der Verkehrsexperte bei der Entzugsbehörde, weil der Betroffene während der Prüfung Monologe führte, verwirrt wirkte, von sich in dritter Person sprach und sich nicht auf den Verkehr konzentrieren konnte. Nach Rücksprache mit dem IRM Zürich wurde vom Betroffenen zunächst ein Arztzeugnis eingefordert, welches sich zu seiner Fahreignung äussern sollte. Nachdem er dieses nicht einreichte, wurde eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet. Das Bundesgericht schützt die Anordnung. Es stellt fest, dass zur Sachverhaltsabklärung mit dem Einfordern eines Arztzeugnis zunächst ein milderes Mittel gewählt wurde. Schliesslich durfte aber anhand der Einzelfallumstände generell an der Fahreignung des Betroffenen gezweifelt werden.

Urteil 7B_784/2023: Die Eisplatte auf dem LKW

Wer die Plane seines LKW oder eines Anhängers im Winter ungenügend von Schnee und Eis befreit, sodass auf der Autobahn eine Eisplatte auf nachfolgende Fahrzeuge fällt, macht sich des Führens eines nicht vorschriftsgemässen Fahrzeugs gemäss Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG strafbar.

Urteil 6B_639/2025: Wer bremst, hat Angst

Und ebenfalls wegen Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG macht sich strafbar, wer ein Auto lenkt, dessen Handbremse nicht richtig funktioniert und dessen Leistung ohne Nachprüfung gesteigert wurde. Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Es ist unerheblich, ob jemand tatsächlich gefährdet wurde oder nicht.

Die rasende Polizistin (und mehr)

Urteil 1C_667/2024: Milderung der Massnahme nach dringlicher Dienstfahrt (zur amtl. Publ. vorgesehen)

Der Sommer ist vorbei, das Laub fällt und die Motorräder werden eingemottet. Die Zeit der Gemütlichkeit beginnt, im Cheminée lodert das Feuer und nach einigen Nichteintretens- und Willkürentscheiden hat das Bundesgericht genau zur richtigen Zeit wieder ein richtig gutes Urteil rausgehauen.

Es beantwortet nämlich die spannende Frage, ob die Entzugsbehörde die Mindestentzugsdauer einer Massnahme unterschreiten oder gar eine mildere Massnahme anordnen muss, wenn die Strafe nach einer Verkehrsregelverletzung auf einer dringlichen Dienstfahrt nach Art. 100 Ziff. 4 SVG gemildert wurde.

Das hört sich wirklich spannend an!

Die Beschwerdeführerin ist Gruppenchefin in der Genfer Polizei. Im Januar 2017 fuhr sie auf einer Dienstfahrt mit Blaulicht, aber ohne Sirene innerorts mit abzugsbereinigten 102 km/h. Von der kantonalen Berufungsinstanz wurde Sie wegen qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung schuldig gesprochen. Die Strafe wurde in Anwendung von Art. 100 Ziff. 4 aSVG gemildert. Sie wurde bedingt zu 280 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Die Fahrerlaubnis wurde der Beschwerdeführerin im Februar 2023 gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG für 24 Monate entzogen. Nach einem gutgeheissenen Rekurs wurde die Entzugsdauer auf 12 Monate reduziert, weil das Recht zwischenzeitlich milder wurde. Die Betroffene reicht dagegen Beschwerde ein und verlangt eine Verwarnung. Sie macht geltend, dass der Grundsatz der lex mitior gemäss Art. 2 Abs. 2 StGB verletzt wurde, welcher – wie wir alle wissen – auch im Administrativmassnahmen-Verfahren Anwendung findet.

Das Bundesgericht setzt sich zunächst mit den gesetzlichen Bestimmungen auseinander, nach welchen Verkehrsregelverstösse auf dringlichen Dienstfahrten sanktioniert werden. Im Strafverfahren erfolgt eine allfällige Milderung der Strafe gemäss Art. 100 Ziff. 4 und 5 SVG, wobei die Regeln am 1. Oktober 2023 in Kraft traten bzw. angepasst wurden. Ebenfalls per 1. Oktober 2013 wurde Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG angepasst, nach welchem die Mindestentzugsdauer von 24 Monaten reduziert werden darf (vgl. dazu den Beitrag vom 6. Juni 2025). Nicht angepasst hingegen wurde Art. 16 Abs. 3 SVG, nach welchem die Mindestentzugsdauer grundsätzlich nicht unterschritten werden darf, ausser wenn die Strafe nach Art. 100 Ziff. 4 SVG gemildert wurde.

Im Gegensatz zur Vorinstanz stellt das Bundesgericht fest, dass vorliegend kein Anwendungsfall der lex mitior vorliegt, weil Art. 16 Abs. 3 SVG seit 1. August 2016 in Kraft ist.

Obligatorische Unterschreitung der Mindestentzugsdauer?

Im Folgenden prüft das Bundesgericht, ob eine Strafmilderung nach Art. 100 Ziff. 4 SVG obligatorisch zu einer Reduktion der Administrativmassnahme führen muss. Es legt deshalb Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG nach dem gängigen Methodenpluralismus aus, wobei die grammatikalische Auslegung den Vorzug geniesst. Nach letzterer handelt es sich um eine Kann-Vorschrift. Auch die historische Auslegung, nach welcher eine Unterschreitung der Mindestentzugsdauer nur in Ausnahmefällen erfolgen soll, stützt die grammatikalische Auslegung. Und schliesslich ergeben die teleologische sowie systematische Auslegung, dass die Entzugsbehörde schon immer ein grosses Ermessen hatte bei der Anordnung von Führerausweis-Entzügen. Mit Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG wollte der Gesetzgeber den Entzugsbehörden dieses Ermessen bei Dienstfahrten noch erweitern und nicht etwa durch ein Obligatorium vermindern.

Daraus ergibt sich, dass die Reduktion einer Strafe gemäss Art. 100 Ziff. 4 SVG nicht bedeutet, dass die Entzugsbehörde die Mindestentzugsdauer unterschreiten muss. Sie kann dies im Rahmen der Einzelfallbeurteilung im Rahmen ihres Ermessens tun (zum Ganzen E. 2.5).

Auch wenn die Mindestentzugsdauer hätte unterschritten werden können, war im vorliegenden Fall die Anordnung einer 12-monatigen Warnungsmassnahme verhältnismässig. Insb. stellt das Bundesgericht fest, dass die strafrechtlichen Regeln zur Strafzumessung in Art. 47f. StGB nicht analog auf das Administrativmassnahmen-Verfahren Anwendung finden. Die Dauer des Entzugs wird nach den Kriterien in Art. 16 Abs. 3 SVG festgelegt, welche mit den Regeln zur Strafzumessung nicht deckungsgleich sind. Sicherlich können sich die Entzugsbehörden vom Strafurteil «inspirieren» lassen, gebunden sind sie aber nicht, weil die strafrechtlichen Strafen und die verwaltungsrechtlichen Massnahmen unterschiedliche Ziele verfolgen (zum Ganzen ausführlich E. 3).

Verwarnung statt Entzug?

Die Beschwerdeführerin erachtet es schliesslich als willkürlich, dass vorliegend in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG keine Verwarnung angeordnet wurde. Auch hier kommt das Bundesgericht – stark zusammengefasst – nach Auslegung des Gesetzestextes zum Schluss, dass die Anordnung einer Verwarnung anstatt eines Führerausweis-Entzugs nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen würde, auch wenn das Gesetz eine Unterschreitung auf Null Tage nicht explizit ausschliesst. Nicht beantwortet wird die Frage, ob auf eine Massnahme gänzlich hätte verzichtet werden können.


Bonus: Urteil 6B_1041/2023: Rendez-Vous mit einem Velofahrer

Wer mit seinem Auto im Rückwärtsgang gut 280 Meter einem Velofahrer nachjagt, weil dieser beim Passieren auf den Seitenspiegel schlug und diesen beschädigte, schliesslich mit dem Heck mit dem Velofahrer kollidiert, sodass dieser unter das Auto gerät, macht sich nicht der Gefährdung des Lebens schuldig, sondern nur der groben Verkehrsregelverletzung. Das Verhalten des Autofahrers war vorliegend nicht skrupellos, womit dieses Tatbestandselement für die Erfüllung des Tatbestandes der Gefährdung des Lebens gemäss Art. 129 StGB fehlte. Das Bundesgericht erwägt, dass die Rückwärts-Nachfahrt zwar eine Überreaktion und der Beschwerdegegner hemmungslos war, der Zweck des Nachfahrens – die Schadensregulierung – aber irgendwie auch nachvollziehbar war.

Mindestentzugsdauer beim Raserdelikt

Am 1. Januar 2013 wurde der «Rasertatbestand» ins SVG aufgenommen. Rasern drohte eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. Um den Strafrichtern wieder etwas mehr Ermessensspielraum zu gewähren, wurde Art. 90 SVG um die Abs. 3bis und 3ter ergänzt, die es seit Oktober 2023 unter gewissen Voraussetzungen ermöglichen, auch eine mildere Strafe auszusprechen. Damit einher ging eine Anpassung von Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG. Wo vorher die Mindestentzugsdauer nach «Raserdelikten» bei 24 Monaten lag, ist es seit Oktober 2023 ebenfalls möglich, die Mindestentzugsdauer um bis zu 12 Monate zu «reduzieren». Diese Formulierung bietet – wie so oft – Spielraum für Interpretation.

Gibt es nun bei Raserdelikten eine variable Mindestentzugsdauer, weil man die Mindestentzugsdauer – je nach Strafurteil – um eine gewisse Anzahl reduziert? Würde das auch für eine Sperrfrist nach Art. 16d Abs. 2 SVG gelten?

Oder heisst das, dass bei einer Milderung im Strafverfahren die Mindestentzugsdauer 12 Monate beträgt und – ganz normal – erschwerende Umstände sich massnahmeerhöhend auswirken?

Muss man eigentlich die Massnahmedauer reduzieren, oder darf man nur?

Mit etwas Verspätung widmen wir uns diesem Urteil, in welchem sich das Bundesgericht erstmals zu Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG äussert…

Ich will Antworten auf diese spannenden Fragen!

Der Beschwerdeführer überschritt im Februar 2019 die Höchstgeschwindigkeit innerorts um kurzeitig um 71 km/h und um 57 km/h. Schliesslich kollidierte er mit einem unbeteiligten Fahrzeug, wobei sich alle Beteiligten verletzten. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten sowie einer Busse bestraft. Daraufhin wurde ihm die Fahrerlaubnis für 24 Monaten entzogen. Mit seinen Rechtsmitteln verlangt der Beschwerdeführer eine Warnmassnahme von 12 Monaten.

Der Beschwerdeführer stützt sich – kurz gesagt – auf den Grundsatz der lex mitior. Seit seiner Widerhandlung seien die Regelungen im Gesetz zur Bestrafung bzw. Bemassnahmung von Rasern milder geworden. Aus seiner Sicht hätte, bei heutiger Beurteilung, im Strafverfahren eine mildere Strafe ausgesprochen werden müssen, weshalb er diese Milderung immerhin noch im Administrativmassnahmenverfahren für sich beansprucht. Das Bundesgericht stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass die neuen Bestimmungen zum Rasertatbestand milder sind – das war ja auch der Sinn der Gesetzesanpassung – und erklärt den Grundsatz der lex mitior für anwendbar (zum Ganzen E. 5). Allerdings verwirft es die Ansicht des Beschwerdeführers, dass seine Strafe, würde sie heute beurteilt, nach Art. 90 Abs. 3ter SVG gemildert würde, weil er Ersttäter war. Einerseits handelt es sich dabei um eine KANN-Vorschrift und andererseits war seine Verkehrsregelverletzung besonders krasser Natur, nicht zuletzt weil das hohe Risiko in einen Verkehrsunfall mündete, bei welchem Drittpersonen verletzt wurden (E. 5.4).

Nun aber endlich zu dem Kern des Entscheides aus administrativrechtlicher Sicht:

Bei der Festsetzung einer Warnmassnahme nach Art. 16c SVG kommt Art. 16 Abs. 3 SVG zur Anwendung (E. 5.5.1). Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG ist eine DARF-Vorschrift. Das bedeutet, auch wenn im Strafverfahren die Strafe gemildert wurde, muss im Administrativmassnahmenverfahren keine Reduktion der Mindestentzugsdauer erfolgen (E. 5.5.2). Da der Beschwerdeführer einen krasseren Raserfall zu verantworten hat, ist es nicht zu beanstanden, dass die Dauer der Warnmassnahme nicht gekürzt wurde.

Vorsicht Meinung: Was bedeutet das nun für die eingangs gestellten Fragen?

Da das Bundesgericht Art. 16 Abs. 3 SVG unmissverständlich für anwendbar erklärt, bedeutet das aus meiner Sicht, dass nach einer Milderung im Strafverfahren Warnmassnahmen nach Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG nicht vom Maximum zu reduzieren sind («Von oben herab»), sondern nach der üblichen Methode von der Mindestentzugsdauer auszugehen ist und die Einzelfallumstände massnahmeerhöhend zu berücksichtigen sind («von unten hinauf»), sofern sich die Entzugsbehörde überhaupt dazu entscheidet, die Mindestentzugsdauer zu reduzieren. Sie darf ja, muss aber nicht. Ebenso heisst das, dass eine Sperrfrist nach Art. 16d Abs. 2 SVG nach einer strafrechtlichen Milderung immer 12 Monate beträgt.

Annullierung Führerausweis auf Probe und Fahreignung wegen Alkohol

Es gibt sie noch, die genussvollen Momente im Leben. Nach hartem Arbeitstag die im richtigen Neigungswinkel bei fein justierter Raumtemperatur gelagerte Flasche Bordeaux aus dem Keller holen, mit dem Cabrio bei 25 Grad im Schatten der Amalfi-Küste entlang brettern oder am Strand in Hội An in einer Hängematte dem Rauschen des Meeres lauschen…

Wir SVG-Nerds brauchen nichts davon! Unsere grauen Zellen werden bereits durch die Lektüre eines guten Bundesgerichtsurteils so angenehm stimuliert, dass Strände, Cabrios und Weine im Rauschen der Hintergrundgeräusche verschwinden. Doch was macht ein solches Urteil aus? Es befasst sich konzise mit verschiedenen Themen und fasst dazu noch gratis die Rechtsprechung zusammen. Es stellt klar, was die Grundsätze sind und führt zugleich auch die Ausnahmen auf. Es muss nicht einmal eine Kehrtwendung der Rechtsprechung beinhalten, damit der Jurist oder die Juristin mit der Zunge schnalzt.

Dieses Urteil ist genau so eines. Es befasst sich mit der Frage, ab wann genau die Voraussetzungen für eine Annullierung des Führerausweises auf Probe erfüllt sind, welcher Wert bei einer Blutalkoholprobe für die Anordnung einer Fahreignungsabklärung relevant ist und wann die Entzugsbehörde ein Strafurteil nicht abwarten muss.

Hört sich spannend an…

Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin eines Führerausweises auf Probe. Nach einer Polizeikontrolle im März 2023 wurde anhand einer Blutprobe festgestellt, dass die Beschwerdeführerin mit einem Wert zwischen 1.49 und 2.37 Promille gefahren ist. Die Fahrberechtigung wurde vorläufig abgenommen und später wiedererteilt. Die Entzugsbehörde teilte der Beschwerdeführerin Ende März 2023 schriftlich mit, dass sie mit einem Führerausweis-Entzug rechnen muss.

Im April 2023 wurde die Beschwerdeführerin erneut bei einer Polizeikontrolle angehalten. Eine Atemalkoholprobe ergab einen Wert von 0.55 mg/L.

Nachdem zunächst ein vorsorglicher Entzug des Führerausweises auf Probe angeordnet wurde, verfügte die Entzugsbehörde schliesslich dessen Annullierung und machte die Wiederzulassung u.a. von einer die Fahreignung bejahenden verkehrspsychologischen und -medizinischen Abklärung abhängig. Die Beschwerdeführerin verlangt, dass von einer verkehrsmedizinischen Abklärung abgesehen wird und dass die Sache an die Entzugsbehörde zurückgewiesen wird, damit eine Massnahme mit Probezeitverlängerung ausgesprochen oder das Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens sistiert wird.

Die Beschwerdeführerin findet, dass die Unschuldsvermutung verletzt wurde und grundsätzlich das Ergebnis des Strafverfahrens abgewartet werden muss bzw. das Administrativverfahren hätte sistiert werden müssen.

Zur Sistierung (E. 3.1)

Grundsatz: Da die Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden ist, muss sie den Ausgang des Strafverfahrens grundsätzlich abwarten, also ihr Verfahren sistieren.

Ausnahmen:

Steht die Annullierung des Führerausweises auf Probe und wird der Sachverhalt bestritten, kann nicht sistiert werden. Es wird die Fahrberechtigung vorsorglich entzogen (dazu Urteil 1C_246/2024 E. 5 und Beitrag vom 22. Februar 2025).

Die Beschwerdeführerin anerkannte im ersten Fall, dass sie unter Alkoholeinfluss gefahren ist. Im zweiten Fall stellte sie sich auf den Standpunkt, dass sie im Strafverfahren eine Einsprache eingereicht habe, machte dazu aber keine weiteren Ausführungen und zeigte auch nicht auf, wie sich ihr Opponieren im Strafverfahren auf das Administrativmassnahmen-Verfahren auswirken könne. Deshalb musste nicht sistiert werden, sondern ihre Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen.

Zur Unschuldsvermutung (E. 3.2)

Die Unschuldsvermutung wird bei der Anordnung von verschuldensunabhängigen Sicherungsmassnahmen nicht angewendet. Dazu zählt auch die Annullierung des Führerausweises auf Probe, denn mit dieser Massnahme geht die Legalvermutung einher, dass die betroffene Person charakterlich nicht fahrgeeignet ist. Weiter wird die Unschuldsvermutung nicht angewendet bei:

Zur Annullierung (E. 4)

Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass sie im Zeitpunkt des zweiten Vorfalles noch nicht wusste, dass die erste FiaZ-Fahrt ebenfalls die Voraussetzungen von (a)Art. 15a Abs. 4 SVG erfüllen werde, da sie das Resultat der Blutprobe noch nicht kannte. Damit die Voraussetzungen einer Annullierung erfüllt sind, ist es nicht nötig, dass die Massnahme zur ersten Widerhandlung vollzogen oder rechtskräftig ist. Ferner ist es auch nicht vorausgesetzt, dass überhaupt schon eine Massnahme i.S.v. Art. 15a Abs. 3 SVG angeordnet wurde (vgl. BGE 146 II 300 E. 4.3 oder Beitrag vom 4. Juni 2020).

Vorliegend gab es im Zeitpunkt der zweiten schweren Widerhandlung, noch keinen Entscheid zur ersten FiaZ-Fahrt. Die Beschwerdeführerin wurde aber von der Entzugsbehörde nach der ersten Widerhandlung schriftlich darauf hingewiesen, dass eine Massnahme in Betracht gezogen wird. Sie wusste deshalb, dass ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet wurde, weshalb es auch keine Rolle spielte, dass sie das Resultat der Blutprobe erst später kannte. Der Führerausweis auf Probe wurde rechtmässig annulliert.

Zur verkehrsmedizinischen Fahreignungsabklärung (E. 5)

Schliesslich stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, dass die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung unverhältnismässig sei, weil aus ihrer Sicht die ermittelten Alkoholwerte keine Zweifel rechtfertigen. Lenkt man ein Auto mit einer Blutalkoholkonzentration von 1.6% oder mehr, muss zwingend eine verkehrsmedizinische Fahreignungsabklärung angeordnet werden (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Die Beschwerdeführerin führt aus, dass beim ersten FiaZ von einer Blutalkoholkonzentration von 1.49 Promille ausgegangen werden muss, in Anwendung der Unschuldsvermutung. Dem entgegnet das Bundesgericht, dass bei Blutproben, die ein Minimal- und ein Maximalergebnis haben, für die Annahme von Zweifeln gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG der Mittelwert massgeblich ist (vgl. BGE 140 II 334 E. 6). Vorliegend liegt der Mittelwert bei 1.93 Promille. Die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung erfolgte damit zu Recht.

Edit vom 19. Mai 2025: Urteil 1C_464/2024 ergänzt.


Und noch ein paar weitere Urteile

Urteil 1C_648/2024: Haaranalysen und Haarpflegeprodukte

Der Beschwerdeführer fuhr im Februar 2023 ein Motorfahrzeug mit einer Atemalkoholkonzentration von 0.83 mg/L. Nach einer negativen Begutachtung ordnete die Entzugsbehörde den Sicherungsentzug nach Art. 16d SVG an.

Haaranalysen gelten als geeignetes Mittel um übermässigen Alkoholkonsum sowie die Einhaltung von Abstinenzauflagen nachzuweisen. Der Beschwerdeführer kritisiert, dass das Labor, welches die Haaranalyse durchführte, nicht unabhängig sei, da es ein Eigeninteresse an der Korrektheit seiner Analysen habe. Darin erblickt der Beschwerdeführer Willkür. Willkür liegt allerdings gemäss Bundesgericht nur vor, wenn auf ein Gutachten abgestütz wird, dass offensichtlich unrichtig ist. Hinzukommt, dass das Labor auf Begehren des Beschwerdeführers Stellung nahm zu den vom Beschwerdeführer verwendeten Haarpflegeprodukten. Schlüssig erörterte es, dass diese Produkte nicht zu fehlerhaften Messungen des EtG-Wertes in den Haaren führen können.


Urteil 1C_688/2023: Höhe der Parteientschädigung

Der Beschwerdeführer wehrte sich im kantonalen Verfahren erfolgreich gegen die Anordnung von Auflagen wegen Alkohol und Kokain. Ihm wurde deshalb eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 zugesprochen. Die Vorinstanz betrachtete die Komplexität der Sache als mittelhoch. Der Beschwerdeführer ist damit nicht einverstanden, erhebt Beschwerde beim Bundesgericht und legt eine Honorarnote von CHF 22’068.61 ins Recht.

Aus Art. 29 Abs. 2 BV wird das Recht der Parteien abgeleitet, innert einer 10-tägigen Frist eine Kostennote für die Rechtsvertretung einzureichen, sobald ohne weiteren Aufwand mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass eine Rechtsvertretung ausdrücklich zum Einreichen einer Honorarnote aufgefordert werden muss. Die Frist von 10 Tagen läuft ab dem Zeitpunkt, ab welchem mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann (E. 2). Insgesamt war es nicht willkürlich, dass pauschal eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 gesprochen wurde. Solche Fälle, in welchen man sich gegen Auflagen wehrt, haben nach Ansicht des Bundesgerichts mittlere Schwierigkeit und rechtfertigen mittleren Aufwand. Ebenso bezeichnet es die Wichtigkeit der Sache sowie den Streitwert (allfällige Kosten für Haaranalysen) als eher gering.


Urteil 6B_52/2025: Atemalkoholprobe

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Atemalkoholkonzentration. Er betrachtet die Atemalkoholprobe mit Messgerät als nicht verwertbar, weil ihm nicht bewusst war, was der gemessene Wert von 0.4 mg/L bedeutet und er davon abgehalten worden sei, eine Blutprobe zu verlangen.

Die Modalitäten der Atemalkoholprobe mit einem Testgerät richten sich nach Art. 11 SKV, jene mit einem beweissicheren Messgerät nach Art. 11a SKV. Trotz Atemalkoholprobe wird eine Blutprobe angeordnet, wenn die betroffene Person dies möchte (Art. 12 Abs. 1 lit. d SKV). Darauf muss die Polizei ausdrücklich hinweisen (Art. 13 Abs. 1 SKV).

Es ist unbestritten, dass die Polizisten ihrer Informationspflicht nachgekommen sind. Der Beschwerdeführer verzichtete zunächst auf eine Blutprobe, verweigerte aber in der Folge auf Anraten seines Anwaltes die Mitwirkung. Die erst nachträglich eingenommene Verweigerungshaltung, führt aber nicht dazu, dass die rechtmässig erhobene Atemalkoholprobe unverwertbar wird. Ebenso kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, dass er „unter Druck“ auf die Blutprobe verzichtete, nur weil ein Polizist sagte, dass der Wert der Blutprobe erfahrungsgemäss höher ausfalle. Schliesslich verwirft das Bundesgericht auch den Standpunkt des Beschwerdeführers, dass er nicht gewusst habe, was die Anerkennung der Atemalkoholprobe bzw. der Verzicht auf die Blutprobe bedeute. Jeder Person muss klar sein, dass die Sache ernst ist, wenn die Polizei sie auf den Polizeiposten mitnimmt und erklärt, dass man fahrunfähig ist und sofort nicht mehr Autofahren darf. Das gilt vorliegend umso mehr, weil der Beschwerdeführer Anwalt und Privatdozent ist.

Von Spontanaussagen, dem Mieterindiz und dem Anvisieren von Schnellfahrern

Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, welche Aussagen auch ohne Belehrung über die Miranda-Rechte verwertet werden dürfen und ob die Miete ein Indiz für die Lenkerschaft ist.

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Der Beschwerdeführer wurde aus Sicht der Strafbehörden bei einer Töfftour mit zwei Kollegen über mehrere Pässe mit einem gemieteten Motorrad geblitzt – und zwar im Raserbereich. Auf die Spur gekommen sind ihm die Behörden unter anderem, weil der Beschwerdeführer einem Polizisten am Telefon äusserte, dass der Vermieter des Motorrades ihm gesagt habe, dass es ihn geblitzt hätte. Da er diese Aussage aber spontan und ohne Belehrung über seine Miranda-Rechte machte, erachtet es der Beschwerdeführer als rechtswidrig, wenn diese Äusserung nun im Strafverfahren gegen ihn verwendet wird.

Im Strafprozess gelten strenge und zwingende Protokollierungsregeln (Art. 76ff. StPO). Damit wird einerseits der Sachverhalt festgehalten und andererseits dafür gesorgt, dass das Strafverfahren einem Rechtsstaate würdig durchgeführt wird (E. 1.3.2). Nach Eröffnung der Untersuchung, darf die Polizei grundsätzlich keine selbstständigen Ermittlungen mehr durchführen. Es benötigt dazu einen Auftrag der Staatsanwaltschaft (Art. 312 StPO). Wie bei den meisten Grundsätzen gibt es auch hier eine Ausnahme bei einfachen Erhebungen zur Klärung des Sachverhalts. So ist etwa die selbstständige polizeiliche Ermittlung von Geschädigten und Zeugen sowie deren informatorische Befragung, namentlich zur Abklärung, ob diese beweisrelevante Angaben zum Sachverhalt machen können, weiterhin möglich (E. 1.3.3). Genau eine solche einfach Abklärung machte die Polizei, als sie den Beschwerdeführer anrief und sich nach dem Halter des geblitzten Motorrades erkundigte. Dabei ging es noch nicht um die Geschwindigkeitsüberschreitung. Die beiläufige Aussage, dass er geblitzt wurde, machte der Beschwerdeführer spontan, ohne dass er vom Polizisten direkt aufs Schnellfahren angesprochen wurde. Aus diesem Grund durfte diese im Polizeirapport protokollierte Aussage schliesslich als Beweis verwertet werden (E. 1.4).

Im vorliegenden Fall gibt es keinen direkten Beweis, nach welchem erstellt ist, dass der Beschwerdeführer das Motorrad gelenkt hatte. Eine strafrechtliche Verurteilung ist aber auch anhand von Indizienbeweisen möglich. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich allein betrachtet nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache oder Täterschaft hindeuten und insofern Zweifel offenlassen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das den Schluss auf den vollen rechtsgenügenden Beweis von Tat oder Täter erlaubt (E. 2.3.2). Das Halterindiz, also dass der Halter auch der Lenker eines Motorfahrzeuges war, ist seit je in der Rechtsprechung verankert (E. 2.3.3 mit vielen Hinweisen). Aus dem Halterindiz kann das Mieterindiz abgeleitet werden, also dass der Mieter eines Fahrzeuges, wohl auch dessen Lenker war (E. 2.5.2). Insgesamt würdigten die kantonalen Instanzen weitere Indizien wie die Aussagen der Beteiligten, die Angaben zur Motorradtour sowie die Bekleidung des Beschwerdeführers woraus sich ein Beweisbild ergab, aus welchem willkürfrei darauf geschlossen werden konnte, dass der Beschwerdeführer das Motorrad im Tatzeitpunkt auch lenkte.


Gerade eben haben wir gelernt, dass eine Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar ist, wenn dazu jegliche Unterlagen fehlen (vgl. Beitrag vom 2. April 2025). Gilt das auch, wenn die vom Hersteller im Rahmen der Prüfung der Visiereinrichtung vorgesehene Justierung des Fadenkreuzes des Messgeräts nicht vorgenommen wurde?

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Der Beschwerdeführer wurde bei einem Überholmanöver ausserorts mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h gemessen. Er überschritt damit die geltende Tempolimite um 30 km/h. Im vorliegenden Fall liegt ein Eichzertifikat vor, welches grundsätzlich bestätigt, dass das Messgerät funktionierte. Ob nun das Visier im vorliegenden Fall justiert wurde oder nicht, war letztlich irrelevant. Gutachterlich wurde nämlich festgestellt, dass die Messung technisch korrekt und plausibel war. Insbesondere hielt der Gutachter fest, dass eine Verschiebung des auf dem Messvideo sichtbaren Fadenkreuzes die Messung nicht beeinflusse. Der Messbeamte ziele nicht damit auf das zu messende Fahrzeug, sondern durch eine separate Visiervorrichtung; die Videoaufnahme und das in dieser ersichtliche Fadenkreuz dienten einzig dazu, das vom Messgerät über die Visiervorrichtung anvisierte Objekt zweifelsfrei zu identifizieren (E. 1.3.).

Eine Geschwindigkeitsüberschreitung ausserorts um 30 km/h ist eine grobe Verkehrsregelverletzung (E. 2.3.). Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er sich in einem Notstand befunden habe (Art. 17 StGB), weil das überholte Fahrzeug beschleunigt habe. Rechtfertigungsgründe werden bei Geschwindigkeits-überschreitungen nur mit grosser Zurückhaltung angenommen (vgl. dazu den Beitrag vom 16. September 2022). Vorliegend ist fraglich, ob sich der Beschwerdeführer überhaupt in einer Notstandslage befand, denn er hätte sein Überholmanöver einfach abbrechen können, als das andere Fahrzeug beschleunigte.

Eine Verkehrsregelverletzung kann entschuldbar sein, wenn man sich aufgrund des Fehlverhaltens einer anderen Person in einer misslichen Lage befindet. Wählt man in einer solchen Situation eine Lösung, die rückblickend die schlechtere von mehreren Möglichkeiten war, muss das nicht heissen, dass man schuldhaft handelte. Nur wenn die gewählte Lösung geradezu kopflos erscheint, macht man sich strafbar (dazu Urteil 6B_351/2017 E. 1.4).

Vorliegend lag es auf der Hand, dass das Abbrechen des Überholmanövers die beste Lösung gewesen wäre. Zusammen mit dem überholten Fahrzeug zu beschleunigen war offensichtlich die schlechtere Lösung und damit kopflos. Deshalb kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, dass er eine dem Abbremsen gleichwertige Lösung gewählt hatte (E. 3.3).

Von Empathie beim Telefonieren und fehlenden Unterlagen bei Geschwindigkeitsdelikten

Urteil 1C_672/2024: Das unfreundliche Telefonat

Egal ob beim Staat oder in der Privatwirtschaft, immer mal wieder hat man es mit nervigen Menschen zu tun. Ist ein Richter befangen, wenn ihn eine Prozesspartei nervt und er ein Telefonat etwas unprofessionell führt und unwirsch beendet?

Hier die Antwort:

Die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers wurde für einen Monat entzogen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel und ersuchte um unentgeltliche Prozessführung. Wegen Aussichtslosigkeit wurde das Gesuch abgewiesen. Die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht SG gutgeheissen und an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Im Laufe des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer mit Zwischenverfügung aufgefordert darzutun, wie er sich Ferien (2x 2 Wochen) leisten könne, wenn er finanziell in einer schlechten Lage sei. In dieser Abklärung erblickte der Beschwerdeführer eine «voreingenommene und unerhörte Gemeinheit in aller Form» und stellte ein Ausstandsbegehren gegen die verfahrensleitende Richterin beim Abteilungspräsident. Im Laufe des Verfahrens führte der Beschwerdeführer mit dem Abteilungspräsident ein Telefonat, bei welchem dieser dem Beschwerdeführer durch die Blume sagte, dass Telefonieren mit ihm mühselig sei («jetzt hanich das au mol dörfe erläbe, meh bringt Sie würkli chum usem Telefon…»). Natürlich erblickte der Beschwerdeführer auch darin eine Befangenheit und erhebt Beschwerde, nachdem die Vorinstanz urteilte, dass keine Ausstandsgründe vorlagen.

Bürgerinnen und Bürger haben in der Schweiz ein Recht auf ein faires Verfahren. Das bedingt natürlich, dass eine Sache durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht beurteilt wird (Art. 30 Abs. 1 BV). Die Unabhängigkeit eines Gerichtes bemisst sich nicht nach dem Empfinden der betroffenen Person, denn dann wären wahrscheinlich alle Gerichte befangen. Massgeblich ist, ob das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit in objektiver Weise begründet erscheint. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter oder die Richterin tatsächlich befangen ist (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Auch wenn der Richter im vorliegenden Fall aufgrund seiner Aussagen «genervt» erschien, kann daraus noch keine Befangenheit konstruiert werden. Der Beschwerdeführer erklärte selbst, dass er zuvor schon mehrere Male mit dem Sekretariat telefonierte. Das habe sich wohl herumgesprochen. Von einer Gerichtsperson wird seitens Bundesgerichts erwartet, dass sie unparteiisch urteilen kann, auch wenn sie sich über die Prozessführung einer Partei nervt (z.B. wegen unnötiger, zu langer oder repetitiver Eingaben). Auch wenn das Telefonat des Abteilungspräsidenten vlt. nicht besonders empathisch geführt wurde, er hängte einfach auf, war er deswegen noch nicht befangen (E. 3). Gleiches gilt für die verfahrensleitende Richterin, welche sich mit den Ferien des Beschwerdeführers befasste. Dieser selber gab gegenüber den Behörden an, dass er in den Ferien sei. Deshalb handelte es sich nicht um eine «infame Mutmassung» der Behörden, wenn diese genauere Abklärungen zu eben diesen Ferien treffen wollten (E. 4).


Urteil 6B_1057/2023: Fehlende Unterlagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung (gutgh. Beschwerde)

Es ist immer eine kleine Sensation, wenn eine Beschwerde bei einem Geschwindigkeitsdelikt gutgeheissen wird. Das Schnellfahren gehört zur absoluten Massendelinquenz und die Gerichte urteilen hier traditionell extrem zurückhaltend. Wenn aber zu einer Geschwindigkeitsmessung jegliche Unterlagen fehlen, reicht das für eine Verurteilung?

Hört sich interessant an!

Der Beschwerdeführer wurde mit einer Busse von CHF 600 bestraft, weil er innerorts das Tempolimit von 50 km/h um 22 km/h überschritten hatte. Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts. Einerseits moniert er, dass er nicht der Lenker war, auch wenn er sich auf dem polizeilichen Formular zur Lenkerermittlung als Halter und Lenker bezeichnete. Andererseits fehlen in den Akten das Messprotokoll sowie das Logbuch und die einwandfreie Funktionsfähigkeit des Messgerätes sei auch nicht erstellt. Damit ist die Geschwindigkeitsmessung aus Sicht des Beschwerdeführers nicht verwertbar.

Geschwindigkeitsmessungen erfolgen nach den Modalitäten von Art. 6 ff. VSKV-ASTRA. Die Messgeräte müssen geeicht (Art. 3 VSKV-ASTRA) und das Kontrollpersonal entsprechend geschult sein (Art. 2 VSKV-ASTRA). Zudem gibt es Weisungen des ASTRA zu Geschwindigkeitskontrollen, die aber kein Bundesgericht darstellen und die freie Beweiswürdigung der Gerichte unberührt lassen. Gemäss den Weisungen ist bei stationären bemannten Geschwindigkeitsmessungen ein Messprotokoll zu erstellen. Bei autonomen Geschwindigkeitsmessungen ist zusätzlich ein Logbuch zu führen. Das Bundesgericht hat wiederholt entschieden, dass Fehler in den Messprotokollen grundsätzlich nicht dazu führen, dass die Geschwindigkeitsmessung nicht als Beweis verwertet werden kann. Im vorliegenden Fall fehlen aber Messprotokoll, Logbuch sowie das Eichzertifikat des Messgeräts gänzlich. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz nicht davon ausgehen, dass das Messgerät einwandfrei funktionierte (E. 3.1-4 mit vielen weiteren Urteilen zur Thematik des korrekten Messprotokolls). Es war also willkürlich anzunehmen, dass der Beschwerdeführer zu schnell gefahren war.

Die Vorinstanz durfte aber immerhin davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt der Lenker war. Sie würdigte nicht nur die Angabe des Beschwerdeführers auf der Lenkerermittlung, dass er selber gefahren ist, sie setzte sich auch mit seinem Aussageverhalten auseinander (E. 3.5).

Da allerdings die Korrektheit der Messung nicht erstellt ist, wird die Beschwerde gutgeheissen.

Zusammenspiel zwischen Straf- und Administrativ-Verfahren… und mehr

Urteil 1C_246/2024: Ich bin einfach gebunden…

Das Urteil befasst sich mit der allseits bekannten Thematik, nämlich der Bindung der Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt. Interessant ist das Urteil allemal, weil sich das Bundesgericht ziemlich eingehend damit befasst, was bei einer Verfahrenssistierung alles möglich ist. Zudem ist es das erste Mal (soweit ersichtlich), dass sich jemand vor Bundesgericht wehrt, weil sein vorsorglicher Entzug nicht neu beurteilt wurde gemäss Art. 30a Abs. 2 VZV.

More please…

Der Führerausweis auf Probe des Beschwerdeführers wurde vorsorglich entzogen, weil er zwei Verkehrsunfälle verursachte. Diese Massnahme wird zugunsten der Verkehrssicherheit angeordnet, wenn die Annullierung des Führerausweises auf Probe zur Debatte steht (vgl. Urteil 6B_1019/2016 E. 1.4.3).

Eingeheng beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Dualität der Verfahren im Schweizer Recht nach einer Verkehrsregelverletzung. Im Administrativmassnahmen-Verfahren ist die Entzugsbehörde grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden, sodass widersprüchliche Entscheide vermieden werden. Das bedeutet auch, dass sich die betroffene Person gdrs. im Strafverfahren gegen den Vorwurf einer Verkehrsregelverletzung wehren muss, u.a. weil das Strafverfahren besser Gewähr dafür bietet, dass das Ergebnis der Sachverhaltsermittlung näher bei der materiellen Wahrheit liegt. Und auch wenn die Entzugsbehörde im Administrativ-Verfahren das Beschleunigungsgebot beachten muss, so darf sie trotzdem ein sistiertes Verfahren nicht wieder aufnehmen, wenn der Sachverhalt im Strafverfahren noch nicht festgehalten wurde. Ist die betroffene Person der Ansicht, dass ihre Sache zu langsam bearbeitet wird, muss sie primär im Strafverfahren für Beschleunigung sorgen.

Schliesslich verweist das Bundesgericht darauf, dass bei einer Annullierung des Führerausweises auf Probe Zweifel an der charakterlichen Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Die Zweifel an der Fahreignung setzen keine strikten Beweise voraus.


Mehr Urteile im Tikitaka

Urteil 6B_381/2024: Die Staatsanwaltschaft am Fischen?

Anhand einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung befasst sich das Bundesgericht in diesem strafprozessual äusserst knackigen Urteil mit dem Untschied zwischen einer Phishing-Expedition und einem Zufallsfund. Werden Beweise im Rahmen einer Phising-Expedition gefunden, sind diese gänzlich unverwertbar, handelt es sich um Zufallsfunde dürfen die Beweise grds. verwertet werden (Art. 243 Abs. 1 StPO). Vorliegend nahm die Staatsanwaltschaft ein zuvor eingestelltes Verfahren wegen Mordes wieder auf. Im Rahmen der wiederaufgenommenen Untersuchung fand sie „zufällig“ Videos auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers, die Verkehrsregelverletzungen zeigten. Es handelte sich vorliegend nicht um eine Phishing-Expedition, da die Beweisaufnahme nicht „aufs Geratewohl“ (also völlig grundlos) getätigt wurde (ausführlich E. 1.4 f.). Die Wideraufnahme des Verfahrens war allerdings rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Beweise nur nach Massgabe von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertet werden dürfen. Qualifiziert grobe und sogar grobe Verkehrsregelverletzungen können unter den Begriff der schweren Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO fallen (vgl. Beitrag vom 04.11.2023). In diesem Sinne wurde der Beschwerdeführer zu Recht wegen den SVG-Delikten verurteilt.


Urteil 6B_53/2024: I really love chattin‘

Der Beschwerdeführer wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er während 30 Sekunden auf der Autobahn auf seinem Handy durch einen Chatverlauf scrollte. Aus seiner muss ein Freispruch her, weil das Beäugen eines Chatverlaufs keine Verrichtung sei, die die Aufmerksamkeit von der Strasse weglenke. Es liegt auf der Hand, dass das Bundesgericht die Verurteilung bestätigte, denn während dem Scrollen fuhr der Beschwerdeführer auch Schlangenlinien. Er war abgelenkt.


Urteile 6B_778/2024, 6B_1241/2023 und 6B_256/2024: Aktueller Stand beim Abstand

Wer auf der Autobahn nur 0.39s (6B_778/2024) oder 0.52s (6B_1241/2023) Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug einhält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.

Im Urteil 6B_256/2024 war der Beschwerdeführer auf der A1L Richtung St. Gallen unterwegs. Er führ mit ca. 50km/h und hatte ca. drei Fahrzeuglängen Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug. Als dieses stark abbremste, verursachte der Beschwerdeführer eine Auffahrkollision. Er wurde wegen mangelndem Abstand zu einer Busse wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass auch auf der Autobahn die „1-Sekunden-Regel“ zur Anwendung kommen sollte, wenn die Verkehrsverhältnisse mit dem Verkehr innerhalb einer Ortschaft vergleichbar sind (vgl. dazu etwa Urteil 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das Bundesgericht kontert allerdings die Rechtsansicht des Beschwerdeführers mit Verweis auf die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand (E. 2.3). Egal unter welchen Umständen gilt auf der Autobahn grds. die „Halbe-Tacho-Regel“. Ein Fahrzeuglenker muss immer anhalten können, auch wenn sich der Bremsweg des vorfahrenden Fahrzeuges durch eine Kollision brüsk verkürzt.


Urteil 1C_260/2024: Psychische Krankheiten können vorsorglichen FA-Entzug rechtfertigen

Ein polizeilicher Bericht über den Aufenthalt einer Person in einer psychiatrischen Anstalt kann je nach Krankheitsbild Grund sein für die Anordnung eines vorsorglichen Entzuges und einer Fahreignungsabklärung. Das gilt auch dann, wenn es keinen Vorfall im Strassenverkehr gab, denn zum sicheren und jederzeit situationsadäquaten Führen eines Motorfahrzeuges im öffentlichen Strassenverkehr ist ein komplexes Zusammenspiel von psychischen Funktionen und Fähigkeiten erforderlich, das bei psychischen Erkrankungen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt sein kann. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem die Fähigkeit zur realitätsgerechten Wahrnehmung und ungestörten Informationsverarbeitung und -bewertung; weiter zählt dazu die Fähigkeit, auf äussere Reize adäquat und zuverlässig zu reagieren sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten situationsbezogen und angemessen zu steuern.

Dabei kommt auch bei Berufsfahrern der Grundsatz zum Zuge, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung die Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen werden muss, auch wenn dies einem Berufsverbot gleichkommt. Die Wirtschaftsfreiheit wird durch die Massnahme nicht verletzt, auch wenn der automobilistische Leumund bis dahin ungetrübt war.

Schluss mit Halterhaftung, Strafmilderung bei jungen Rasern

Heute widmen wir uns zwei französischen Urteilen des Bundesgerichts, die beide zur amtlichen Publikation vorgesehen sind. Mit einer Laienbeschwerde erhebt eine Person im Urteil 7B_545/2023 erfolgreich Beschwerde gegen eine Ordnungsbusse und im Urteil 6B_1372/2023 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Bestrafung von Rasern gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG.

Urteil 7B_545/2023: Halterhaftung gemäss Art. 7 Abs. 5 OBG (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil beantwortet die Frage, wo die Grenze der Halterhaftung im Ordnungsbussengesetzt zu finden ist. Wird das Verschuldensprinzip verletzt, wenn man eine Busse bezahlen muss, wenn klar feststeht, dass man als Halter selber nicht gefahren ist?

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen eine Ordnungsbusse von CHF 240, weil jemand ausserorts mit seinem Auto zu schnell gefahren ist. Er bringt vor, dass er an diesem Tag nicht gefahren ist, sondern sein Auto an vier Verwandte und einige Freunde ausgeliehen habe. Das sah übrigens auch das kantonale Gericht so, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass der Halter eines Fahrzeuges trotzdem gebüsst werden kann. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung und dem Verschuldensprinzip, denn nach der Ansicht der kantonalen Instanz verkäme Art. 7 Abs. 5 OBG zu einer reinen Kausalhaftung – Du bist Halter, Du bezahlst Busse.

Auch wenn es sich beim Ordnungsbussenverfahren um ein stark vereinfachtes Verfahren für mindere Straftaten handelt, sind die allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches anwendbar. Bei Ordnungsbusse im Strassenverkehr, muss der Halter eines Fahrzeuges, auch juristische Personen, die Busse bezahlen, wenn er in seiner Verantwortlichkeit als Halter nicht mithilft, die lenkende Person zu identifizieren. Die Bestimmung wurde u.a. explizit für Geschwindigkeitsüberschreitungen konzipiert, wo die lenkende Person nicht immer leicht zu identifizieren ist. Wir kennen alle die verschwommenen Fotos der Blitzkästen.

Die Regelung ist verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung sowie den Grundsatz des Verbotes des Selbstbelastungszwangs (vgl. BGE 144 I 242 E. 1).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von Entscheiden in der Vergangenheit darin, dass die kantonalen Instanzen explizit festgehalten haben, dass der Beschwerdeführer das Auto nicht lenkte. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob es mit dem Verschuldensprinzip zu vereinbaren ist, wenn jemand eine Ordnungsbusse bezahlen muss für eine Widerhandlung, die er klar nicht begangen hat.

Das Bundesgericht setzt sich sodann vertieft mit Art. 7 Abs. 5 OBG auseinander, insb. im Lichte des Grundsatzes nulla poena sine culpa. Auch wenn die Materialien dafür sprechen, dass einem Fahrzeughalter eine Busse ohne weiteres auferlegt werden kann, spricht sich die Lehre generell dafür aus, dass eine reine „Kausalhaftung“ das Verschuldensprinzip verstösst. Die strafrechtliche Verantwortung kann auch nicht auf eine andere Person übertragen werden. Auch die bisherige Rechtsprechung hält fest, dass keiner Person eine Ordnungsbusse auferlegt werden kann, nur weil sie formeller Halter eines Fahrzeuges ist.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass Art. 7 Abs. 5 OBG eine Norm mit verwaltungsrechtlichem Charakter ist. Sie enthält eine subsidiäre Pflicht des Fahrzeughalters, den Behörden mitzuteilen, wer mit seinem Fahrzeug herumdüst. Die Norm dient damit der Verkehrssicherheit, aber die Regel kann nicht als Grundlage für die Verhängung einer Strafe betrachtet werden.

Da es damit nicht möglich ist, dem Halter die Ordnungsbusse aufzuerlegen, schlägt das Bundesgericht vor, dass man wiederum unter Strafe stellen sollte, wenn der Fahrzeughalter die Identität der lenkenden Person nicht bekannt gibt.

Kleine Sidenote: Interessanterweise stellt es auch fest, dass es in der Schweiz eine solche Regelung noch nicht gäbe, obwohl genau diese Pflicht in §15 des Verkehrsabgabegesetzes des Kantons Zürich festgehalten ist. Widerhandlungen werden gemäss §18 mit Busse bestraft. Das Bundesgericht selber hat über diese Regelung befunden in Urteil 6B_680/2007 sowie Urteil 6B_512/2008.


Urteil 6B_1372/2023: Der gute Leumund gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG (amtl. Publ.)

Dieses Urteil gibt die Antwort darauf, ob für die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG vorausgesetzt ist, dass jemand tatsächlich seit 10 Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis ist oder nicht.

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Wegen einem Raserdelikt im Mai 2022 wurde der Beschwerdegegner (geb. 2001) zunächst mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten bestraft. Diese Sanktion wurde von der Berufungsinstanz in Genf unter Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG in eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen geändert. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdegegner das Raserdelikt mit einem Motorrad auf der Autobahn beging, ohne dass Dritte konkret gefährdet wurden. Zudem war sein verkehrsrechtlicher Leumund ungetrübt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde, Art. 90 Abs. 3ter SVG sei verletzt worden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG bei Personen, die weniger lange als 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis nicht angwendet werden kann, und schon gar nicht bei Inhabern eines Führerausweises auf Probe. So sehen es auch die Empfehlungen der SSK vor.

Gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG kann die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe nach einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung unterschritten werden, wenn der Täter nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde. Vorliegend kommt der Grundsatz der lex mitior zur Anwendung, weil die am 1. Oktober 2023 eingeführte Bestimmung von Art. 90 Abs. 3ter SVG eine mildere Bestrafung von Rasern ermöglicht.

Da sich das Bundesgericht bis heute noch nicht vertieft mit Art. 90 Abs. 3ter SVG auseinandergesetzt hat, beschäftigt es sich nun vertieft mit der Norm nach dem Methodenpluralismus, aber natürlich ausgehend vom Gesetzestext und insb. wie die Zeitperiode von 10 Jahren vor der Tat zu verstehen ist.

Die Lehre sieht, in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, dass die Regel von Art. 90 Abs. 3ter SVG zu einer Ungleichbehandlung abhängig des Alters der betroffenen Person führt. Trotzdem lehnt sie die Empfehlungen der SSK ab, weil sie dem klaren Wortlaut der Bestimmung widersprechen. Den Materialen ist zu entnehmen, dass – nach einem politischen Hickhack – die Norm eingeführt wurde, damit die Gerichte bei der Bestrafung von Rasern ein grösseres Ermessen haben.

Auch wenn das Bundesgericht erkennt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG einige Probleme mit sich bringt (insb. bzgl. dem Alter der lenkenden Personen), hält es fest, dass der Gesetzgeber den Gerichten einen grösseren Ermessensspielraum einräumen wollte bei der Sanktionierung von Rasern. Auch der klare Text der Bestimmung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich eine Fahrberechtigung hatte. Das macht auch Sinn, denn eine Person kann auch ohne Fahrberechtigung gegen das SVG verstossen.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Und die SSK muss wohl über die Bücher und ihre Empfehlungen anpassen.

Katalogtatbestände und Gegenstandslosigkeit

Urteil 1C_445/2024: Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wann darf ein Verfahren abgeschrieben werden?

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Der Beschwerdeführer leidet aus Sicht der Entzugsbehörde an einer Fatigue-Erkrankung sowie kognitiven Einschränkungen. Aus diesem Grund forderte die Behörde ein Arztzeugnis, welches sich bestenfalls auch zur Fahreignung äussert. Der Beschwerdeführer reagierte darauf nicht. Aus diesem Grund ordnete die Entzugsbehörde die Auflage an, dass der Beschwerdeführer ein Arztzeugnis einreichen muss. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel. Ein Arztzeugnis reichte er aber trotzdem nicht ein, weshalb ihm der Führerausweis vorsorglich entzogen wurde. Das Verwaltungsgericht schrieb wegen dem vorsorglichen Entzug das Verfahren bzgl. Auflage wegen Gegenstandslosigkeit ab. Um diese Abschreibung dreht sich der vorliegende Entscheid.

Ein Rechtsstreit kann gegenstandslos werden (z.B. Abbrennen des Hauses, für das eine Umbaubewilligung streitig ist) oder das rechtliche Interesse an seiner Beurteilung dahinfallen. Ausschlaggebend für die Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit ist immer, dass im Verlauf des Verfahrens eine Sachlage eintritt, angesichts derer ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung der Streitsache nicht mehr anerkannt werden kann (E. 4.1).

Da der Beschwerdeführer auch gegen den vorsorglichen Entzug seines Führerausweises Beschwerde erhoben hat, ist dieses Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Wenn man das Verfahren zu den Auflagen nun endgültig abgeschreiben und der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel gegen den vorsorglichen Entzug durchdringen würde, müsste man ihm die Fahrerlaubnis wieder erteilen, ohne dass noch Auflagen bestünden. Es gäbe – zumindest vorübergehend – keine Sicherungsmassnahmen mehr. Das ist aber nicht im Sinne der Verkehrssicherheit. Aus diesem Grund darf noch kein Abschreibungsentscheid ergehen.

Die beste Lösung wäre es gewesen, das Verfahren bzgl. Auflagen bis zum Abschluss des Verfahrens zum vorsorglichen Führerausweis-Entzug zu sistieren.

Vorsicht Meinung: Prozessieren um jeden Preis? Der Beschwerdeführer gewinnt seine Laienbeschwerde. Er kann sich damit brüsten, den „Behörden eines ausgewischt zu haben“. Doch betrachtet man diese Sache etwas genauer, hat sich der Beschwerdführer selber ein Ei gelegt. Würde seine Beschwerde gegen den vorsorglichen Führerausweis-Entzug überraschenderweise gutgeheissen, wäre er – zumindest für eine Weile – ohne Massnahmen gewesen. Doch mit seiner Beschwerde hat er selber dafür gesorgt, dass die Auflagen nicht ganz verschwinden. Prozessieren um jeden Preis ist eben auch nicht immer das Richtige.


Urteil 1C_546/2024: Katalogtatbestände und die rechtliche Würdigung

Was passiert, wenn ein Strafverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt wird, aber trotzdem ein Katalogtatbestand von Art. 16ff. SVG erfüllt ist?

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Die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wurde im November 2021 für unbestimmte Zeit entzogen. Im August 2023 lenkte sie das Fahrzeug Ihres Vaters trotz dieses Entzuges. Der Polizei gab sie an, dass sie dachte, wieder fahren zu dürfen, weil eine verkehrsmedizinische Begutachtung positiv ausgefallen war. Aufgrund der Widerhandlung wurde die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wiederum für unbestimmte Zeit entzogen und eine verkehrspsychologische Fahreignungsabklärung angeordnet. Interessanterweise wurde das Strafverfahren wegen Fahrens trotz Entzug wegen Geringfügigkeit gemäss Art. 52 StGB eingestellt.

Allseits bekannt: Die Entzugsbehörde ist grds. an die im Strafverfahren erfolgten Sachverhaltsfeststellungen gebunden, in der rechtlichen Würdigung hingegen ist sie frei (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin lenkte unbestrittenermassen zweimal ein Fahrzeug trotz entzogener Fahrerlaubnis. Der Tatbestand von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG war damit objektiv sowie subjektiv erfüllt (E. 2.2.2 f.). Die Beschwerdeführerin gibt an, dass sie wegen der Auskunft des Verkehrsmediziners, der ihre Fahreignung bejahte, dachte, dass sie wieder Autofahren dürfe. Auf einen Rechtsirrtum konnte sich die Betroffene nicht berufen, da sie bereits in der Vergangenheit mit Warnungsmassnahmen konfrontiert war und den Verfahrensablauf kennen müsste. Zudem hat das Bundesgericht wiederholt festgehalten, dass auch in leichten Fällen von Fahren trotz Entzug die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden kann (E. 2.3).

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wohl der Begründungspflicht, weil die Entzugsbehörde in ihrer Verfügung lediglich festhielt, dass diese von den Stellungnahmen der Beschwerdeführerin „Kenntnis genommen“ hat. Sie gibt aber selber zu, dass eine solche Gehörsverletzung im Verlauf des Verfahrens geheilt wurde (E. 3). Sie argumentiert weiter, dass die 24-monatige Mindestentzugsdauer von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG für den vorliegenden Vorfall viel zu streng sei und damit Art. 6 EMRK verletze. Das Bundesgericht entgegnet dazu, dass es einerseits an die gesetzliche Bestimmung gebunden ist (Art. 190 BV) und dass Art. 6 EMRK bei Sicherungsmassnahmen grds. keine Anwendung findet (E. 4).

Auch wenn im Strafverfahren eine Einstellung nach Art. 52 StGB erfolgte, war der Tatbestand des Fahrens trotz Entzug erfüllt. Folglich blieb der Entzugsbehörde keine andere Wahl, als die nächste Sicherungsmassnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG anzuordnen.


Bonus-Urteil

Urteil 1C_635/2023: Ausserortscharakter innerhalb von Basel-Stadt?

An einem wunderschönen Eckchen in Basel überschritt der Beschwerdeführer das Tempolimit von 50 km/h um 26 km/h, weshalb seine ausländische Fahrerlaubnis für drei Monate aberkannt wurde. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kontrollort Ausserortscharakter aufweise. Ob ein Kontrollort Ausserortscharakter aufweist, beurteilt sich immer anhand des Einzelfalles. Vorliegend passierte der Beschwerdeführer Häuser, unübersichtliche Kreuzungen, Fussgängerstreifen und wunderschöne Basler Betonlandschaften. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht auf einer Ausserortsstrecke befand. Die Massnahme war korrekt.

Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

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Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.