Arbeitgeber aufgepasst! Die Pflichten beim Überlassen eines Fahrzeugs…

Urteil 6B_819/2023: Vorsicht bei ausländischen Fahrberechtigungen mit Ablaufdatum

Mit etwas Verspätung widmen wir uns diesem französischen und zur Publikation vorgesehenen Urteil, in welchem sich das Bundesgericht ausgiebig mit den Pflichten auseinandersetzt, die Arbeitgeber, Flottenverantwortliche, aber auch alle anderen treffen, wenn sie einer Person ein Auto überlassen. Es ist ein wichtiger Entscheid, weil er besonders für Arbeitgeber relativ streng ist.

Streng? Unser Bundesgericht? Nicht doch…

Der Beschwerdeführer wurde mit Geldstrafe von 10 Tagessätzen bestraft, weil er einem Arbeitnehmer ein Auto zur Verfügung stellte, obwohl dieser nicht fahrberechtigt war. Als er diesen im Juli 2019 anstellte, kontrollierte er in branchenüblicher Weise dessen spanische Fahrerlaubnis. Die neu angestellte Person äusserte sich nicht weiter dazu und der Beschwerdeführer übersah, dass spanische Führerausweise ein Ablaufdatum haben. Im Januar 2021 wurde der Arbeitnehmer von der Polizei kontrolliert. Diese stellte fest, dass der spanische Führerausweis im Dezember 2020 abgelaufen ist.

Die Bestrafung erfolgte gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. e SVG. Strafbar macht sich, wer ein Motorfahrzeug einem Führer überlässt, von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass er den erforderlichen Ausweis nicht hat. Das Bundesgericht befasst sich zunächst mit dem Begriff des «Überlassens», weil dieser gemäss der Lehre nicht überall gleich verstanden wird.

Der Begriff des Überlassens (E. 3.1)

Überlassen enthält gemäss Bundesgericht ein «aktives Element». Meistens erfolgt das Überlassen durch das Übergeben eines Fahrzeugschlüssels, einem Badge oder ähnlichem. Das Überlassen setzt aber zusätzlich auch das Einverständnis des Überlassenden voraus, dass die fahrzeugführende Person dieses auch fahren darf bzw. berechtigterweise über das Fahrzeug verfügt. Meistens impliziert die Übergabe eines Fahrzeugschlüssels dieses Einverständnis. Es kann aber auch Konstellationen geben, wo man den Schlüssel nur gibt, um etwa die Einkäufe aus dem Auto zu holen. Schliesslich fällt die Übergabe eines Autos wegen Kauf oder Leasing nicht unter den Tatbestand. Ebenfalls eher nicht unter den Begriff des Überlassens fällt es, wenn ein Vater seinen Autoschlüssel zuhause nicht versteckt, obwohl er weiss, dass der Führerausweis des Sohnes entzogen ist. Im beruflichen Umfeld wäre das sowieso nicht umsetzbar, wenn z.B. alle Fahrzeugschlüssel des Fuhrparks an einem «Schlüsselbrett» hängen und nur ein Mitarbeiter nicht fahrberechtigt ist. Der Chef kann dann nicht alle Schlüssel verstecken.

Was gibt es für Konstellationen? (E. 3.2)

Festzustellen, ob eine Person fahrberechtigt ist, stellt in der Praxis in aller keine Schwierigkeit dar. Man lässt sich den Ausweis zeigen und gut ist. Vorbildlich beschäftigt sich das Bundesgericht mit einer Vielzahl an weiteren Fall-Konstellationen und eruiert, ob diese für das Überlassen massgeblich sind, oder nicht.

Nicht massgeblich ist, ob

  • die an sich fahrberechtigte Person den Führerausweis dabei hat. Das ist lediglich eine Ordnungsbusse von CHF 20 (Bussenliste Ziff. 1.100.1).
  • sich die fahrberechtigte Person an Beschränkungen gemäss Art. 34 VZV oder eine Brillenauflage hält.
  • der Führerausweis auf Probe abgelaufen ist (mit Verweis auf Art. 95 Abs. 2 SVG), da die Betroffene Person grds. fahren kann und die Erteilung des definitiven Ausweises von einer Formalität abhängt.

Massgeblich ist hingegen, ob

  • der Führerausweis entzogen wurde.
  • der Führerausweis auf Probe annulliert wurde, da dies mit einem Führerausweis-Entzug vergleichbar ist.

Offen bleibt, ob

  • Der Überlassende prüfen muss, ob die fahrberechtigte Person nur ein Auto mit spezieller Ausstattung fahren darf.

Berechtigung vs. Kontrolle der Berechtigung (E. 3.3)

Im Folgenden befasst sich das Bundesgericht eingehend damit, dass man unterscheiden muss zwischen der Berechtigung zum Autofahren und der Kontrolle, ob diese Berechtigung vorliegt oder entzogen ist. Um es kurz zu halten, die Polizei kann bei Schweizer Ausweisen sofort nachschauen, ob die Fahrberechtigung besteht (im sog. FABER). Beim Inhaber einer ausländischen Fahrberechtigung geht das wiederum nicht. Wenn eine Person aus dem Ausland keinen Führerausweis vorweisen kann, so ist das kein Fall von Nicht Mitführen des Führerausweises, sondern die Person gilt als nicht fahrberechtigt.

Was ist konkret zu tun? (E. 3.5)

Der Tatbestand kann auch fahrlässig erfüllt werden. Das Bundesgericht befasst sich folglich damit, wie weit die überlassende Person bzw. ein Arbeitgeber die Fahrberechtigung kontrollieren muss. Grundsätzlich muss sich die überlassende Person vergewissern, dass die berechtigte Person einen gültigen Ausweis hat.

Grundregel: Ausweis zeigen lassen!

Wie eingehend die Kontrolle sein muss, ist abhängig davon, in welcher Beziehung man zur betroffenen Person steht (Familie, Kollegen, Arbeitnehmer, Car-Sharing usw.). Im beruflichen Rahmen kann man das in etwa so zusammenfassen:

  • Bei einer Neuanstellung muss man sich das Ausweisdokument vorzeigen lassen.
  • Bei gelegentlichen Fahrten reicht nach längerer Anstellung auch ein mündliches Nachfragen aus.
  • Bei Berufsfahrern wiederum, muss der Flottenchef nicht jeden Tag neu nachfragen. Er darf darauf vertrauen, dass die Arbeitnehmer sich melden, wenn sie einen Führerausweis-Entzug haben.

Im vorliegenden Fall…

…geht es um ein KMU, bei welchem Berufsfahrer täglich unterwegs sind. Es herrscht ein Klima des Vertrauens im Geschäft. Grds. muss also nicht jeden Tag nachgefragt werden, ob jemand nicht mehr fahrberechtigt ist.

Nun kommt das grosse ABER: Vorliegend wurde dem Arbeitgeber eine ausländische Fahrberechtigung mit einem Ablaufdatum vorgelegt bei der Neuanstellung. Auch wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass es in der Schweiz so etwas (zumindest beim definitiven Führerausweis) nicht gibt, hätte er erkennen müssen, dass er seinen Arbeitnehmer (oder allenfalls die ausländische Behörde) darauf hätte ansprechen müssen, ob die Fahrberechtigung rechtzeitig erneuert wurde.

Fazit nach langem Übersetzen: Arbeitnehmer müssen insb. bei ausländischen Führerausweisen auch das Ablaufdatum beachten und sich am besten einen Outlook-Termin machen, damit man das Nachhaken nicht vergisst.

Bonus-Urteile im Kurzformat

Urteil 1C_321/2025: Die verwirrte Prüfungsfahrt

Nach einer Fahrprüfung meldete sich der Verkehrsexperte bei der Entzugsbehörde, weil der Betroffene während der Prüfung Monologe führte, verwirrt wirkte, von sich in dritter Person sprach und sich nicht auf den Verkehr konzentrieren konnte. Nach Rücksprache mit dem IRM Zürich wurde vom Betroffenen zunächst ein Arztzeugnis eingefordert, welches sich zu seiner Fahreignung äussern sollte. Nachdem er dieses nicht einreichte, wurde eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet. Das Bundesgericht schützt die Anordnung. Es stellt fest, dass zur Sachverhaltsabklärung mit dem Einfordern eines Arztzeugnis zunächst ein milderes Mittel gewählt wurde. Schliesslich durfte aber anhand der Einzelfallumstände generell an der Fahreignung des Betroffenen gezweifelt werden.

Urteil 7B_784/2023: Die Eisplatte auf dem LKW

Wer die Plane seines LKW oder eines Anhängers im Winter ungenügend von Schnee und Eis befreit, sodass auf der Autobahn eine Eisplatte auf nachfolgende Fahrzeuge fällt, macht sich des Führens eines nicht vorschriftsgemässen Fahrzeugs gemäss Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG strafbar.

Urteil 6B_639/2025: Wer bremst, hat Angst

Und ebenfalls wegen Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG macht sich strafbar, wer ein Auto lenkt, dessen Handbremse nicht richtig funktioniert und dessen Leistung ohne Nachprüfung gesteigert wurde. Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Es ist unerheblich, ob jemand tatsächlich gefährdet wurde oder nicht.

Annullierung Führerausweis auf Probe und Fahreignung wegen Alkohol

Es gibt sie noch, die genussvollen Momente im Leben. Nach hartem Arbeitstag die im richtigen Neigungswinkel bei fein justierter Raumtemperatur gelagerte Flasche Bordeaux aus dem Keller holen, mit dem Cabrio bei 25 Grad im Schatten der Amalfi-Küste entlang brettern oder am Strand in Hội An in einer Hängematte dem Rauschen des Meeres lauschen…

Wir SVG-Nerds brauchen nichts davon! Unsere grauen Zellen werden bereits durch die Lektüre eines guten Bundesgerichtsurteils so angenehm stimuliert, dass Strände, Cabrios und Weine im Rauschen der Hintergrundgeräusche verschwinden. Doch was macht ein solches Urteil aus? Es befasst sich konzise mit verschiedenen Themen und fasst dazu noch gratis die Rechtsprechung zusammen. Es stellt klar, was die Grundsätze sind und führt zugleich auch die Ausnahmen auf. Es muss nicht einmal eine Kehrtwendung der Rechtsprechung beinhalten, damit der Jurist oder die Juristin mit der Zunge schnalzt.

Dieses Urteil ist genau so eines. Es befasst sich mit der Frage, ab wann genau die Voraussetzungen für eine Annullierung des Führerausweises auf Probe erfüllt sind, welcher Wert bei einer Blutalkoholprobe für die Anordnung einer Fahreignungsabklärung relevant ist und wann die Entzugsbehörde ein Strafurteil nicht abwarten muss.

Hört sich spannend an…

Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin eines Führerausweises auf Probe. Nach einer Polizeikontrolle im März 2023 wurde anhand einer Blutprobe festgestellt, dass die Beschwerdeführerin mit einem Wert zwischen 1.49 und 2.37 Promille gefahren ist. Die Fahrberechtigung wurde vorläufig abgenommen und später wiedererteilt. Die Entzugsbehörde teilte der Beschwerdeführerin Ende März 2023 schriftlich mit, dass sie mit einem Führerausweis-Entzug rechnen muss.

Im April 2023 wurde die Beschwerdeführerin erneut bei einer Polizeikontrolle angehalten. Eine Atemalkoholprobe ergab einen Wert von 0.55 mg/L.

Nachdem zunächst ein vorsorglicher Entzug des Führerausweises auf Probe angeordnet wurde, verfügte die Entzugsbehörde schliesslich dessen Annullierung und machte die Wiederzulassung u.a. von einer die Fahreignung bejahenden verkehrspsychologischen und -medizinischen Abklärung abhängig. Die Beschwerdeführerin verlangt, dass von einer verkehrsmedizinischen Abklärung abgesehen wird und dass die Sache an die Entzugsbehörde zurückgewiesen wird, damit eine Massnahme mit Probezeitverlängerung ausgesprochen oder das Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens sistiert wird.

Die Beschwerdeführerin findet, dass die Unschuldsvermutung verletzt wurde und grundsätzlich das Ergebnis des Strafverfahrens abgewartet werden muss bzw. das Administrativverfahren hätte sistiert werden müssen.

Zur Sistierung (E. 3.1)

Grundsatz: Da die Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden ist, muss sie den Ausgang des Strafverfahrens grundsätzlich abwarten, also ihr Verfahren sistieren.

Ausnahmen:

Steht die Annullierung des Führerausweises auf Probe und wird der Sachverhalt bestritten, kann nicht sistiert werden. Es wird die Fahrberechtigung vorsorglich entzogen (dazu Urteil 1C_246/2024 E. 5 und Beitrag vom 22. Februar 2025).

Die Beschwerdeführerin anerkannte im ersten Fall, dass sie unter Alkoholeinfluss gefahren ist. Im zweiten Fall stellte sie sich auf den Standpunkt, dass sie im Strafverfahren eine Einsprache eingereicht habe, machte dazu aber keine weiteren Ausführungen und zeigte auch nicht auf, wie sich ihr Opponieren im Strafverfahren auf das Administrativmassnahmen-Verfahren auswirken könne. Deshalb musste nicht sistiert werden, sondern ihre Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen.

Zur Unschuldsvermutung (E. 3.2)

Die Unschuldsvermutung wird bei der Anordnung von verschuldensunabhängigen Sicherungsmassnahmen nicht angewendet. Dazu zählt auch die Annullierung des Führerausweises auf Probe, denn mit dieser Massnahme geht die Legalvermutung einher, dass die betroffene Person charakterlich nicht fahrgeeignet ist. Weiter wird die Unschuldsvermutung nicht angewendet bei:

Zur Annullierung (E. 4)

Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass sie im Zeitpunkt des zweiten Vorfalles noch nicht wusste, dass die erste FiaZ-Fahrt ebenfalls die Voraussetzungen von (a)Art. 15a Abs. 4 SVG erfüllen werde, da sie das Resultat der Blutprobe noch nicht kannte. Damit die Voraussetzungen einer Annullierung erfüllt sind, ist es nicht nötig, dass die Massnahme zur ersten Widerhandlung vollzogen oder rechtskräftig ist. Ferner ist es auch nicht vorausgesetzt, dass überhaupt schon eine Massnahme i.S.v. Art. 15a Abs. 3 SVG angeordnet wurde (vgl. BGE 146 II 300 E. 4.3 oder Beitrag vom 4. Juni 2020).

Vorliegend gab es im Zeitpunkt der zweiten schweren Widerhandlung, noch keinen Entscheid zur ersten FiaZ-Fahrt. Die Beschwerdeführerin wurde aber von der Entzugsbehörde nach der ersten Widerhandlung schriftlich darauf hingewiesen, dass eine Massnahme in Betracht gezogen wird. Sie wusste deshalb, dass ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet wurde, weshalb es auch keine Rolle spielte, dass sie das Resultat der Blutprobe erst später kannte. Der Führerausweis auf Probe wurde rechtmässig annulliert.

Zur verkehrsmedizinischen Fahreignungsabklärung (E. 5)

Schliesslich stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, dass die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung unverhältnismässig sei, weil aus ihrer Sicht die ermittelten Alkoholwerte keine Zweifel rechtfertigen. Lenkt man ein Auto mit einer Blutalkoholkonzentration von 1.6% oder mehr, muss zwingend eine verkehrsmedizinische Fahreignungsabklärung angeordnet werden (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Die Beschwerdeführerin führt aus, dass beim ersten FiaZ von einer Blutalkoholkonzentration von 1.49 Promille ausgegangen werden muss, in Anwendung der Unschuldsvermutung. Dem entgegnet das Bundesgericht, dass bei Blutproben, die ein Minimal- und ein Maximalergebnis haben, für die Annahme von Zweifeln gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG der Mittelwert massgeblich ist (vgl. BGE 140 II 334 E. 6). Vorliegend liegt der Mittelwert bei 1.93 Promille. Die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung erfolgte damit zu Recht.

Edit vom 19. Mai 2025: Urteil 1C_464/2024 ergänzt.


Und noch ein paar weitere Urteile

Urteil 1C_648/2024: Haaranalysen und Haarpflegeprodukte

Der Beschwerdeführer fuhr im Februar 2023 ein Motorfahrzeug mit einer Atemalkoholkonzentration von 0.83 mg/L. Nach einer negativen Begutachtung ordnete die Entzugsbehörde den Sicherungsentzug nach Art. 16d SVG an.

Haaranalysen gelten als geeignetes Mittel um übermässigen Alkoholkonsum sowie die Einhaltung von Abstinenzauflagen nachzuweisen. Der Beschwerdeführer kritisiert, dass das Labor, welches die Haaranalyse durchführte, nicht unabhängig sei, da es ein Eigeninteresse an der Korrektheit seiner Analysen habe. Darin erblickt der Beschwerdeführer Willkür. Willkür liegt allerdings gemäss Bundesgericht nur vor, wenn auf ein Gutachten abgestütz wird, dass offensichtlich unrichtig ist. Hinzukommt, dass das Labor auf Begehren des Beschwerdeführers Stellung nahm zu den vom Beschwerdeführer verwendeten Haarpflegeprodukten. Schlüssig erörterte es, dass diese Produkte nicht zu fehlerhaften Messungen des EtG-Wertes in den Haaren führen können.


Urteil 1C_688/2023: Höhe der Parteientschädigung

Der Beschwerdeführer wehrte sich im kantonalen Verfahren erfolgreich gegen die Anordnung von Auflagen wegen Alkohol und Kokain. Ihm wurde deshalb eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 zugesprochen. Die Vorinstanz betrachtete die Komplexität der Sache als mittelhoch. Der Beschwerdeführer ist damit nicht einverstanden, erhebt Beschwerde beim Bundesgericht und legt eine Honorarnote von CHF 22’068.61 ins Recht.

Aus Art. 29 Abs. 2 BV wird das Recht der Parteien abgeleitet, innert einer 10-tägigen Frist eine Kostennote für die Rechtsvertretung einzureichen, sobald ohne weiteren Aufwand mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass eine Rechtsvertretung ausdrücklich zum Einreichen einer Honorarnote aufgefordert werden muss. Die Frist von 10 Tagen läuft ab dem Zeitpunkt, ab welchem mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann (E. 2). Insgesamt war es nicht willkürlich, dass pauschal eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 gesprochen wurde. Solche Fälle, in welchen man sich gegen Auflagen wehrt, haben nach Ansicht des Bundesgerichts mittlere Schwierigkeit und rechtfertigen mittleren Aufwand. Ebenso bezeichnet es die Wichtigkeit der Sache sowie den Streitwert (allfällige Kosten für Haaranalysen) als eher gering.


Urteil 6B_52/2025: Atemalkoholprobe

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Atemalkoholkonzentration. Er betrachtet die Atemalkoholprobe mit Messgerät als nicht verwertbar, weil ihm nicht bewusst war, was der gemessene Wert von 0.4 mg/L bedeutet und er davon abgehalten worden sei, eine Blutprobe zu verlangen.

Die Modalitäten der Atemalkoholprobe mit einem Testgerät richten sich nach Art. 11 SKV, jene mit einem beweissicheren Messgerät nach Art. 11a SKV. Trotz Atemalkoholprobe wird eine Blutprobe angeordnet, wenn die betroffene Person dies möchte (Art. 12 Abs. 1 lit. d SKV). Darauf muss die Polizei ausdrücklich hinweisen (Art. 13 Abs. 1 SKV).

Es ist unbestritten, dass die Polizisten ihrer Informationspflicht nachgekommen sind. Der Beschwerdeführer verzichtete zunächst auf eine Blutprobe, verweigerte aber in der Folge auf Anraten seines Anwaltes die Mitwirkung. Die erst nachträglich eingenommene Verweigerungshaltung, führt aber nicht dazu, dass die rechtmässig erhobene Atemalkoholprobe unverwertbar wird. Ebenso kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, dass er „unter Druck“ auf die Blutprobe verzichtete, nur weil ein Polizist sagte, dass der Wert der Blutprobe erfahrungsgemäss höher ausfalle. Schliesslich verwirft das Bundesgericht auch den Standpunkt des Beschwerdeführers, dass er nicht gewusst habe, was die Anerkennung der Atemalkoholprobe bzw. der Verzicht auf die Blutprobe bedeute. Jeder Person muss klar sein, dass die Sache ernst ist, wenn die Polizei sie auf den Polizeiposten mitnimmt und erklärt, dass man fahrunfähig ist und sofort nicht mehr Autofahren darf. Das gilt vorliegend umso mehr, weil der Beschwerdeführer Anwalt und Privatdozent ist.

Zusammenspiel zwischen Straf- und Administrativ-Verfahren… und mehr

Urteil 1C_246/2024: Ich bin einfach gebunden…

Das Urteil befasst sich mit der allseits bekannten Thematik, nämlich der Bindung der Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt. Interessant ist das Urteil allemal, weil sich das Bundesgericht ziemlich eingehend damit befasst, was bei einer Verfahrenssistierung alles möglich ist. Zudem ist es das erste Mal (soweit ersichtlich), dass sich jemand vor Bundesgericht wehrt, weil sein vorsorglicher Entzug nicht neu beurteilt wurde gemäss Art. 30a Abs. 2 VZV.

More please…

Der Führerausweis auf Probe des Beschwerdeführers wurde vorsorglich entzogen, weil er zwei Verkehrsunfälle verursachte. Diese Massnahme wird zugunsten der Verkehrssicherheit angeordnet, wenn die Annullierung des Führerausweises auf Probe zur Debatte steht (vgl. Urteil 6B_1019/2016 E. 1.4.3).

Eingeheng beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Dualität der Verfahren im Schweizer Recht nach einer Verkehrsregelverletzung. Im Administrativmassnahmen-Verfahren ist die Entzugsbehörde grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden, sodass widersprüchliche Entscheide vermieden werden. Das bedeutet auch, dass sich die betroffene Person gdrs. im Strafverfahren gegen den Vorwurf einer Verkehrsregelverletzung wehren muss, u.a. weil das Strafverfahren besser Gewähr dafür bietet, dass das Ergebnis der Sachverhaltsermittlung näher bei der materiellen Wahrheit liegt. Und auch wenn die Entzugsbehörde im Administrativ-Verfahren das Beschleunigungsgebot beachten muss, so darf sie trotzdem ein sistiertes Verfahren nicht wieder aufnehmen, wenn der Sachverhalt im Strafverfahren noch nicht festgehalten wurde. Ist die betroffene Person der Ansicht, dass ihre Sache zu langsam bearbeitet wird, muss sie primär im Strafverfahren für Beschleunigung sorgen.

Schliesslich verweist das Bundesgericht darauf, dass bei einer Annullierung des Führerausweises auf Probe Zweifel an der charakterlichen Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Die Zweifel an der Fahreignung setzen keine strikten Beweise voraus.


Mehr Urteile im Tikitaka

Urteil 6B_381/2024: Die Staatsanwaltschaft am Fischen?

Anhand einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung befasst sich das Bundesgericht in diesem strafprozessual äusserst knackigen Urteil mit dem Untschied zwischen einer Phishing-Expedition und einem Zufallsfund. Werden Beweise im Rahmen einer Phising-Expedition gefunden, sind diese gänzlich unverwertbar, handelt es sich um Zufallsfunde dürfen die Beweise grds. verwertet werden (Art. 243 Abs. 1 StPO). Vorliegend nahm die Staatsanwaltschaft ein zuvor eingestelltes Verfahren wegen Mordes wieder auf. Im Rahmen der wiederaufgenommenen Untersuchung fand sie „zufällig“ Videos auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers, die Verkehrsregelverletzungen zeigten. Es handelte sich vorliegend nicht um eine Phishing-Expedition, da die Beweisaufnahme nicht „aufs Geratewohl“ (also völlig grundlos) getätigt wurde (ausführlich E. 1.4 f.). Die Wideraufnahme des Verfahrens war allerdings rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Beweise nur nach Massgabe von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertet werden dürfen. Qualifiziert grobe und sogar grobe Verkehrsregelverletzungen können unter den Begriff der schweren Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO fallen (vgl. Beitrag vom 04.11.2023). In diesem Sinne wurde der Beschwerdeführer zu Recht wegen den SVG-Delikten verurteilt.


Urteil 6B_53/2024: I really love chattin‘

Der Beschwerdeführer wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er während 30 Sekunden auf der Autobahn auf seinem Handy durch einen Chatverlauf scrollte. Aus seiner muss ein Freispruch her, weil das Beäugen eines Chatverlaufs keine Verrichtung sei, die die Aufmerksamkeit von der Strasse weglenke. Es liegt auf der Hand, dass das Bundesgericht die Verurteilung bestätigte, denn während dem Scrollen fuhr der Beschwerdeführer auch Schlangenlinien. Er war abgelenkt.


Urteile 6B_778/2024, 6B_1241/2023 und 6B_256/2024: Aktueller Stand beim Abstand

Wer auf der Autobahn nur 0.39s (6B_778/2024) oder 0.52s (6B_1241/2023) Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug einhält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.

Im Urteil 6B_256/2024 war der Beschwerdeführer auf der A1L Richtung St. Gallen unterwegs. Er führ mit ca. 50km/h und hatte ca. drei Fahrzeuglängen Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug. Als dieses stark abbremste, verursachte der Beschwerdeführer eine Auffahrkollision. Er wurde wegen mangelndem Abstand zu einer Busse wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass auch auf der Autobahn die „1-Sekunden-Regel“ zur Anwendung kommen sollte, wenn die Verkehrsverhältnisse mit dem Verkehr innerhalb einer Ortschaft vergleichbar sind (vgl. dazu etwa Urteil 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das Bundesgericht kontert allerdings die Rechtsansicht des Beschwerdeführers mit Verweis auf die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand (E. 2.3). Egal unter welchen Umständen gilt auf der Autobahn grds. die „Halbe-Tacho-Regel“. Ein Fahrzeuglenker muss immer anhalten können, auch wenn sich der Bremsweg des vorfahrenden Fahrzeuges durch eine Kollision brüsk verkürzt.


Urteil 1C_260/2024: Psychische Krankheiten können vorsorglichen FA-Entzug rechtfertigen

Ein polizeilicher Bericht über den Aufenthalt einer Person in einer psychiatrischen Anstalt kann je nach Krankheitsbild Grund sein für die Anordnung eines vorsorglichen Entzuges und einer Fahreignungsabklärung. Das gilt auch dann, wenn es keinen Vorfall im Strassenverkehr gab, denn zum sicheren und jederzeit situationsadäquaten Führen eines Motorfahrzeuges im öffentlichen Strassenverkehr ist ein komplexes Zusammenspiel von psychischen Funktionen und Fähigkeiten erforderlich, das bei psychischen Erkrankungen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt sein kann. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem die Fähigkeit zur realitätsgerechten Wahrnehmung und ungestörten Informationsverarbeitung und -bewertung; weiter zählt dazu die Fähigkeit, auf äussere Reize adäquat und zuverlässig zu reagieren sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten situationsbezogen und angemessen zu steuern.

Dabei kommt auch bei Berufsfahrern der Grundsatz zum Zuge, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung die Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen werden muss, auch wenn dies einem Berufsverbot gleichkommt. Die Wirtschaftsfreiheit wird durch die Massnahme nicht verletzt, auch wenn der automobilistische Leumund bis dahin ungetrübt war.

Schluss mit Halterhaftung, Strafmilderung bei jungen Rasern

Heute widmen wir uns zwei französischen Urteilen des Bundesgerichts, die beide zur amtlichen Publikation vorgesehen sind. Mit einer Laienbeschwerde erhebt eine Person im Urteil 7B_545/2023 erfolgreich Beschwerde gegen eine Ordnungsbusse und im Urteil 6B_1372/2023 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Bestrafung von Rasern gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG.

Urteil 7B_545/2023: Halterhaftung gemäss Art. 7 Abs. 5 OBG (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil beantwortet die Frage, wo die Grenze der Halterhaftung im Ordnungsbussengesetzt zu finden ist. Wird das Verschuldensprinzip verletzt, wenn man eine Busse bezahlen muss, wenn klar feststeht, dass man als Halter selber nicht gefahren ist?

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen eine Ordnungsbusse von CHF 240, weil jemand ausserorts mit seinem Auto zu schnell gefahren ist. Er bringt vor, dass er an diesem Tag nicht gefahren ist, sondern sein Auto an vier Verwandte und einige Freunde ausgeliehen habe. Das sah übrigens auch das kantonale Gericht so, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass der Halter eines Fahrzeuges trotzdem gebüsst werden kann. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung und dem Verschuldensprinzip, denn nach der Ansicht der kantonalen Instanz verkäme Art. 7 Abs. 5 OBG zu einer reinen Kausalhaftung – Du bist Halter, Du bezahlst Busse.

Auch wenn es sich beim Ordnungsbussenverfahren um ein stark vereinfachtes Verfahren für mindere Straftaten handelt, sind die allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches anwendbar. Bei Ordnungsbusse im Strassenverkehr, muss der Halter eines Fahrzeuges, auch juristische Personen, die Busse bezahlen, wenn er in seiner Verantwortlichkeit als Halter nicht mithilft, die lenkende Person zu identifizieren. Die Bestimmung wurde u.a. explizit für Geschwindigkeitsüberschreitungen konzipiert, wo die lenkende Person nicht immer leicht zu identifizieren ist. Wir kennen alle die verschwommenen Fotos der Blitzkästen.

Die Regelung ist verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung sowie den Grundsatz des Verbotes des Selbstbelastungszwangs (vgl. BGE 144 I 242 E. 1).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von Entscheiden in der Vergangenheit darin, dass die kantonalen Instanzen explizit festgehalten haben, dass der Beschwerdeführer das Auto nicht lenkte. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob es mit dem Verschuldensprinzip zu vereinbaren ist, wenn jemand eine Ordnungsbusse bezahlen muss für eine Widerhandlung, die er klar nicht begangen hat.

Das Bundesgericht setzt sich sodann vertieft mit Art. 7 Abs. 5 OBG auseinander, insb. im Lichte des Grundsatzes nulla poena sine culpa. Auch wenn die Materialien dafür sprechen, dass einem Fahrzeughalter eine Busse ohne weiteres auferlegt werden kann, spricht sich die Lehre generell dafür aus, dass eine reine „Kausalhaftung“ das Verschuldensprinzip verstösst. Die strafrechtliche Verantwortung kann auch nicht auf eine andere Person übertragen werden. Auch die bisherige Rechtsprechung hält fest, dass keiner Person eine Ordnungsbusse auferlegt werden kann, nur weil sie formeller Halter eines Fahrzeuges ist.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass Art. 7 Abs. 5 OBG eine Norm mit verwaltungsrechtlichem Charakter ist. Sie enthält eine subsidiäre Pflicht des Fahrzeughalters, den Behörden mitzuteilen, wer mit seinem Fahrzeug herumdüst. Die Norm dient damit der Verkehrssicherheit, aber die Regel kann nicht als Grundlage für die Verhängung einer Strafe betrachtet werden.

Da es damit nicht möglich ist, dem Halter die Ordnungsbusse aufzuerlegen, schlägt das Bundesgericht vor, dass man wiederum unter Strafe stellen sollte, wenn der Fahrzeughalter die Identität der lenkenden Person nicht bekannt gibt.

Kleine Sidenote: Interessanterweise stellt es auch fest, dass es in der Schweiz eine solche Regelung noch nicht gäbe, obwohl genau diese Pflicht in §15 des Verkehrsabgabegesetzes des Kantons Zürich festgehalten ist. Widerhandlungen werden gemäss §18 mit Busse bestraft. Das Bundesgericht selber hat über diese Regelung befunden in Urteil 6B_680/2007 sowie Urteil 6B_512/2008.


Urteil 6B_1372/2023: Der gute Leumund gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG (amtl. Publ.)

Dieses Urteil gibt die Antwort darauf, ob für die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG vorausgesetzt ist, dass jemand tatsächlich seit 10 Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis ist oder nicht.

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Wegen einem Raserdelikt im Mai 2022 wurde der Beschwerdegegner (geb. 2001) zunächst mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten bestraft. Diese Sanktion wurde von der Berufungsinstanz in Genf unter Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG in eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen geändert. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdegegner das Raserdelikt mit einem Motorrad auf der Autobahn beging, ohne dass Dritte konkret gefährdet wurden. Zudem war sein verkehrsrechtlicher Leumund ungetrübt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde, Art. 90 Abs. 3ter SVG sei verletzt worden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG bei Personen, die weniger lange als 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis nicht angwendet werden kann, und schon gar nicht bei Inhabern eines Führerausweises auf Probe. So sehen es auch die Empfehlungen der SSK vor.

Gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG kann die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe nach einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung unterschritten werden, wenn der Täter nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde. Vorliegend kommt der Grundsatz der lex mitior zur Anwendung, weil die am 1. Oktober 2023 eingeführte Bestimmung von Art. 90 Abs. 3ter SVG eine mildere Bestrafung von Rasern ermöglicht.

Da sich das Bundesgericht bis heute noch nicht vertieft mit Art. 90 Abs. 3ter SVG auseinandergesetzt hat, beschäftigt es sich nun vertieft mit der Norm nach dem Methodenpluralismus, aber natürlich ausgehend vom Gesetzestext und insb. wie die Zeitperiode von 10 Jahren vor der Tat zu verstehen ist.

Die Lehre sieht, in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, dass die Regel von Art. 90 Abs. 3ter SVG zu einer Ungleichbehandlung abhängig des Alters der betroffenen Person führt. Trotzdem lehnt sie die Empfehlungen der SSK ab, weil sie dem klaren Wortlaut der Bestimmung widersprechen. Den Materialen ist zu entnehmen, dass – nach einem politischen Hickhack – die Norm eingeführt wurde, damit die Gerichte bei der Bestrafung von Rasern ein grösseres Ermessen haben.

Auch wenn das Bundesgericht erkennt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG einige Probleme mit sich bringt (insb. bzgl. dem Alter der lenkenden Personen), hält es fest, dass der Gesetzgeber den Gerichten einen grösseren Ermessensspielraum einräumen wollte bei der Sanktionierung von Rasern. Auch der klare Text der Bestimmung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich eine Fahrberechtigung hatte. Das macht auch Sinn, denn eine Person kann auch ohne Fahrberechtigung gegen das SVG verstossen.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Und die SSK muss wohl über die Bücher und ihre Empfehlungen anpassen.

Landesverweis wegen Raserdelikt, Zuständigkeits-Streit und der Führerausweis-Entzug des Geschäftsführers

Hallo liebe SVG-Nerds und Geeks
Seit dem letzten Post sind schon wieder einige Wochen ins Land gegangen. Der erste Schnee ist da und wohl auch die ersten Verkehrsunfälle mit Sommerreifen. In dieser besinnlichen FiaZ- bzw. Weihnachts-Zeit wollen wir auf die Rechtsprechung mit SVG-Touch der letzten Wochen zurückblicken. Bieten die Urteile spannende Neuigkeiten oder Ausführungen zu einer interessanten Detailproblematik, gehen wir näher darauf ein. Dient ein Urteil eher dazu, bereits Bekanntes zu repetieren oder zur Aktualisierung von Fallsammlungen, folgt es am Ende des Beitrages als Bonus.


Urteil 6B_1164/2023: Landesverweis und Ausschreibung im Schengener Informationssystem nach Raserdelikt

Dieses Urteil befasst sich ausführlich mit der Frage, wann nach Raserdelikten ein fakultativer Landesverweis sowie die Ausschreibung desselben im Schengener Informationssystem möglich ist.

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Der Beschwerdeführer aus dem Kosovo wurde wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er wurde für sechs Jahre des Landes verwiesen und der Landesverweis im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.

Der Beschwerdeführer stellt sich zunächst auf den Standpunkt, dass „nur“ eine grobe Verkehrsregelverletzung vorläge. Sein Überholmanöver sei nicht krass gewesen. Bei diesem überholte er innerorts ein anderes Fahrzeug vor einem Bahnübergang mit mindestens 100 km/h. Beim anschliessenden Spurwechsel verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Fahrzeug und kollidierte mit einer Mauer bei der Gegenfahrbahn. Das Fahrmanöver habe gemäss der Vorinstanz den Charakter eines Wettstreits gehabt. Damit ein Überholen waghalsig im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG ist, muss es nicht nur gewagt, sondern unsinnig sein. Da der Beschwerdeführer sein Überholmanöver mit stark überhöhter Geschwindigkeit in einer Rechtskurve, bei einem Spurenabbau, bei beidseitigen Trottoirs sowie einer Busspur auf der Gegenfahrbahn durchführte und kein vernünftiges Motiv für diese Fahrweise erkennbar war, war das Überholmanöver unsinnig (E. 4.3).

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen den Landesverweis. Zu Unrecht sei man von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an seiner Landesverweisung ausgegangen. Das Raserdelikt führt nicht zu einem obligatorischen Landesverweis. Begeht ein Ausländer ein Verbrechen kann er für 3-15 Jahre des Landes verwiesen werden (Art. 66abis StGB). Ein Landesverweis muss verhältnismässig sein. Dabei muss eine Interessensabwägung erfolgen zwischen den privaten Interessen der betroffenen Person am Verbleib in der Schweiz und dem öffentlichen Interesse an der Fernhaltung von Personen, die gegen die hiesige Gesetze verstossen. Ein Landesverweis muss den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK standhalten. Dabei sind die Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen. Insb. mit der familiären Situation muss sich das urteilende Gericht vertieft auseinandersetzen. Ob ein Härtefall vorliegt ist anhand der Einzelfallumstände zu prüfen. Ein Härtefall liegt in der Regel vor, wenn eine Ausländerin hier geboren wurde und die Schule besucht hat. Grds. schützt Art. 8 EMRK die „Kernfamilie“, also Ehegatten mit minderjährigen Kindern (zum Ganzen ausführlich E. 7.2).

Der Beschwerdeführer kam mit vier Jahren in die Schweiz und ist gut integriert. Allerdings, obwohl er mit seiner Freundin verlobt ist, besteht keine „Kernfamilie“. Sie wohnen nicht gemeinsam und unterstützen sich auch nicht finanziell. Die politische Situation zwischen dem Kosovo und Serbien spricht nicht gegen den Landesverweis. Das Bundesgericht erblickt beim Beschwerdeführer zwar ein erhebliches Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Als unverheirateter, kinderloser und junger Mann ohne jegliche relevanten gesundheitlichen Einschränkungen befindet sich der Beschwerdeführer jedoch in einer Lebensphase, die mit einer hohen Anpassungsfähigkeit einhergeht. Da der Beschwerdeführer aber bereits mit einer Katalogtat gemäss Art. 66a StGB vorbestraft ist, überwiegt nach dem Raserdelikt das öffentliche Interesse am Landesverweis (E. 7.4). Die Dauer von sechs Jahren ist ebenfalls verhältnismässig (E. 8).

Der Beschwerdeführer bemängelt schliesslich, dass die Vorinstanz ausführe, er könne sich auch in einem anderen Land, als dem Kosovo um einen Aufenthaltstitel bemühen, aber gleichzeitig den Landesverweis im SIS ausschreibe. Damit werde ihm verunmöglicht, sich in einem Schengen-Staat niederzulassen. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung richten sich nach Art. 24 der SIS-II-Verordung. Sie ist dann gerechtfertigt, wenn ein Drittstaatangehöriger eine Gefahr für den Schengen-Raum sein könnte. Das ist  insb. bei einem Drittstaatsangehörigen der Fall, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Da der Kosovo als Drittstaat gilt und es kein Freizügigkeitsabkommen zwischen dem Kosovo und der EU gibt, gilt der Beschwerdeführer als Angehöriger eines Drittstaates. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung sind erfüllt.


Urteil 1C_691/2023: Die Einzelfallumstände nach Art. 16 Abs. 3 SVG

Dieses Urteil beantwortet u.a. die Frage, ob ein Geschäftsleitungsmitglied und Einzelunternehmer, der Kundenbesuche machen muss, beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist.

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Der Beschwerdeführer überschritt ausserorts die Höchstgeschwindigkeit um 35km/h, wofür er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse bestraft wurde. Da die einfache Verkehrsregelverletzung, sowohl die leichte, als auch die mittelschwere Widerhandlung umfasst (E. 3.1.1), wurde der Beschwerdeführer mit einem Führerscheinentzug von zwei Monaten sanktioniert. Wegen der hohen Gefährdung erfolgte die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung zu Recht (E. 3).

Der Beschwerdeführer moniert sodann, dass die Vorinstanz über das gesetzliche Minimum von einem Monat hinausgegangen ist und eine Massnahme von zwei Monaten anordnete. Das Bundesgericht bestätigt die Verhälntismässigkeit der Massnahme. So durfte die geschaffene Gefährdung massnahmeerhöhend berücksichtigt werden (E. 4.2.2). Der reine Leumund (seit 1973) wurde wiederum mildernd berücksicht (E. 4.2.3). Schliesslich äussert sich das Bundesgericht zur geltend gemachten beruflichen Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er als Verwaltungsratspräsident und Geschäftsleitungsmitglied Kunden besuchen muss. Dabei sei er in der ganzen Schweiz mit Laptop, Beamer und Akten unterwegs. Mit der Vorinstanz verneint das Bundesgericht allerdings die berufliche Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer könne sich auch dem guten ÖV in der Schweiz bedienen. Auch Taxifahrten oder betriebsinterne Fahrgemeinschaften könnten eine Lösung sein. Grundsätzlich ist es ja auch Sinn einer erzieherischen Massnahme, dass sie das Leben etwas mühseliger macht (E. 4.2.4).

Die Beschwerde wird abgewiesen.


Urteil 1C_223/2024: Zuständigkeit im Administrativverfahren

Kann man mit einem Wohnsitzwechsel einen Wechsel der Zuständigkeit im Administrativmassnahmen-Verfahren erzwingen und die Massnahme allenfalls sogar hinauszögern? Das perpetuierende Forum verhindert das!

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Wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung bzw. einer schweren Widerhandlung wurde gegen den Beschwerdeführer ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet. Da er zu diesem Zeitpunkt offiziell im Kt. GR wohnhaft war, erfolgte ein erster Schriftenverkehr über die Entzugsbehörde im Kt. GR. Das Administrativmassnahmenverfahren wurde sistiert. Nach Vorliegen des Strafentscheides überwies das StVA Kt. GR die Akten an das StVA ZH zur weiteren Bearbeitung. Es wurde eine Warnmassnahme von drei Monaten angeordnet. Der Beschwerdeführer rügt, dass das StVA ZH für die Massnahme nicht zuständig war.

Die Zuständigkeit im Administrativ-Verfahren ergibt sich aus Art. 22 SVG. Für den Entzug von Führerausweisen ist grds. die Entzugsbehörde des Wohnsitzkantons zuständig. Es gilt der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff (E. 3.1). Der Wohnsitz einer Person befindet sich gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die Begründung des Wohnsitzes müssen nach der Rechtsprechung zwei Merkmale erfüllt sein: Ein objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen (E. 3.1). Wenn die betroffene Person während einem Administrativ-Verfahren ihren Wohnsitz wechselt, bleibt die Zuständigkeit bei der Behörde, die das Verfahren einleitete (sog. perpetuatio fori). Im Administrativmassnahmen-Verfahren erfolgt die Einleitung eines Verfahrens i.d.R. mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs oder der Zustellung einer Verfügung. Auch eine Sistierung ändert an der Zuständigkeit nichts.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er bei der Einleitung des Administrativmassnahmen-Verfahrens seinen offiziellen Wohnsitz im Kt. GR hatte und deshalb das StVA Zürich nie zuständig war. Bereits im Strafverfahren allerdings liess sich der Beschwerdeführer verfahrensbezogene Post an seine Adresse im Kanton Zürich schicken. Dies kann ein Indiz für die Wohnsitznahme im Kanton Zürich sein, zumal für den Zeitpunkt des Erwerbs eines neuen Wohnsitzes nicht allein auf die An- und Abmeldung im Einwohnerregister einer Gemeinde abzustellen ist. Es bestanden genügend objektive Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer bereits bei Einleitung des Administrativ-Verfahrens seinen zivilrechtlichen Wohnsitz im Kt. Zürich hatte. Deshalb war der Kt. GR gar nie zuständig und der Kt. ZH durfte verfügen. Die Beschwerde wird abgewiesen.


Bonus-Urteil 7B_275/2022: Fussgänger beim Rückwärtsfahren touchiert

Wer bei einem Parkplatz rückwärts fährt und dabei einen Fussgänger touchiert und verletzt, verstösst gegen Art. 36 Abs. 4 SVG und Art. 17 Abs. 1 VRV. Rückwärtsfahrende trifft eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers gelten diese Regeln nicht nur zwischen Autofahrern, sondern zwischen allen „Strassenbenützern“, also auch gegenüber Fussgängern.

Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Rückblick: Tödlicher Unfall und Entscheide zur Geschwindigkeit

Die erste Strafkammer des Bundesgerichts hat wieder mal Vollgas gegeben und es sind einige neue Entscheide ergangen. Diesen Urteilen widmen wir uns hier aus Zeitgründen in teilweise stark zusammengefasster Form.

Urteil 6B_16/2023: Fahrlässige Tötung oder qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bei krassen Verkehrsdelikten. Die Beschwerde der beschuldigten Person bzgl. Strafmass wird zudem gutgeheissen.

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Dieses Urteil befasst sich mit einem tödlichen Verkehrsunfall. Der Betroffene überholte im Januar 2017 unter dem Einfluss von THC wegen einem am Vorabend gerauchten Joints auf der Kantonsstrasse zwischen Chur und Domat/Ems zwei andere Fahrzeuge. Dabei übersah er einen Motorroller, kollidierte mit diesem. Die Lenkerin des Rollers starb noch auf der Unfallstelle. Von der ersten Instanz noch wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, änderte das Kantonsgericht GR dieses Urteil auf Berufung hin u.a. auf fahrlässige Tötung. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Sie beantragt, dass der Beschwerdegegner wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung schuldig zu sprechen sei. Aus ihrer Sicht hat der Beschwerdegegner den Tod der Rollerfahrerin in Kauf genommen. Auch der Betroffene erhebt Beschwerde bzgl. dem Strafmass.

Das Bundesgericht setzt sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit (E. 2.2.2) sowie den Strassenverkehrsregeln zum Überholen (E. 2.2.3) auseinander. Es hält auch daran fest, dass Eventualvorsatz bei Unfällen mit Todesfolge nur zurückhaltend und in krassen Fällen anzunehmen ist. Es muss sich aus den Einzelfallumständen ergeben, dass sich der oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (E. 2.2.4). Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass hinter dem Motorroller noch ein weiteres Fahrzeug dem Beschwerdegegner entgegen fuhr. Für ihn „verschmolzen“ die beiden Fahrzeuge optisch in der Morgendämmerung. Da der Beschwerdegegner die Rollerfahrerin in pflichtwidriger Weise nicht wahrgenommen hat, entschied er sich im Lichte der Rechtsprechung nicht gegen Leib und Leben. Er handelte nicht eventualvorsätzlich (zum Ganzen ausführlich E. 2.4). Auch die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft werden abgelehnt. Sie machte geltend, dass das Überholmanöver auch gegenüber den überholten Fahrzeugen eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung war. Das Bundesgericht bestätigt aber den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung (E. 3).

Gutgeheissen wird aber die Beschwerde des Betroffenen. Er wurde mit einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten bestraft. Aus Sicht des Bundesgerichts begründete die Vorinstanz diese hohe Strafe zu wenig. Zudem wurde die lange Verfahrensdauer bzw. eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt (E. 5).


Urteil 6B_1065/2023: Regeln zur Nachfahrmessung ohne kalibriertes Messsystem

Dieses französische Urteil setzt sich exemplarisch mit den Regeln zur Geschwindigkeitskontrolle gemäss Art. 6ff. der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA) auseinander, insb. welche Regeln bzgl. der Nachfahrmessung nach Tacho gelten und wann ein „massiver“ Fall gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorliegt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung. Gemäss einer polizeilichen Nachfahrmessung fuhr er auf einer Autostrasse mit Tempolimite 80 km/h auf einer Strecke von 200 Metern gemäss Tacho des Polizeifahrzeuges mit 145 km/h. Abzugsbereinigt ergab sich daraus eine gefahrenes Tempo von 122 km/h bzw. Geschwindigkeitsüberschreitung von 42 km/h. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass 200m für eine Nachfahrmessung nicht ausreichend seien.

Art. 6 VSKV-ASTRA listet die Messarten auf, welche grundsätzlich für die Messung von Fahrzeug-Geschwindigkeit zu verwenden sind. Die Nachfahrmessung ist eine davon (lit. c Ziff. 2). Gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA sind Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem auf Fälle von massiver Geschwindigkeitsüberschreitung zu beschränken. Die Regeln zu Geschwindigkeitsmessungen werden wiederum durch die „Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ konkretisiert. Gemäss Kapitel 20 muss nach Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem zunächst die Genauigkeit des Tachos des Polizeifahrzeuges geprüft und danach noch der Abzug gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. i VSKV-ASTRA vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, welche das Gericht nicht binden (E. 1.1.4). Knackpunkt ist vorliegend, dass die Weisungen unter Ziff. III.10.1 sagen, dass bei Nachfahrkontrollen u.a. eine genügend lange Messstrecke vorausgesetzt ist, wobei sie auf Anhang 1 der VSKV verweist. Bei 200m ist dort kein Sicherheitsabzug angegeben.

Die kantonalen Instanzen waren der Meinung, dass 200m als Strecke für eine Nachfahrmessung ausreichen, auch weil die Weisungen des ASTRA nicht verbindliches Recht sind und das Gericht die Beweise frei würdigen kann. Der Beschwerdeführer sieht das natürlich diametral anders. Insb. die Messtrecke von nicht mal 200m sei zu kurz, weshalb diese Messung nicht verwertet werden dürfe.

Zunächst hält das Bundesgericht fest, dass Anhang 1 der VSKV-ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. h vs. lit i; E. 1.4.1). Ebenfalls stellt es klar, dass Ziffer III.10 der Weisungen des ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist, sondern nur die Regeln in Ziffer III.20. Entgegen den Vorbringen braucht es keine Mindeststrecke für die Messung und das Gericht muss die Beweise frei würdigen (E. 1.4.2).

Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass keine massive Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorläge. Aus seiner Sicht kann es sich bei dieser Formulierung nur um Raserdelikte handeln. Dem widerspricht das Bundesgericht. Es geht hier darum „wichtige Fälle“ von Geschwindigkeitsdelikten zu erfassen. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, die Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% überschreitet und eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Voraussetzungen eines „wichtigen“ bzw. massiven Falles erfüllt (zur ausführlichen Auslegung E. 2.4).


Urteile 6B_13-16/2024: Wo steht denn hier ne Tafel? (gutgh. Beschwerde)

Diese Urteile wurden auch schon in der Presse erwähnt, z.B. 20min. Es geht um eine Geschwindigkeitstafel bei einer Baustelle am Kerenzerberg, die nach Ansicht des Obergerichts Kt. GL so platziert war, dass sie von den Verkehrsteilnehmern nicht habe wahrgenommen werden können. Das Bundesgericht sieht das anders, weshalb wohl ca. 600 geblitzte Motorfahrzeugführer ihre Busse doch bezahlen müssen.

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Wir machen es hier besonders kurz: Signale müssen von den Verkehrsteilnehmern beachtet werden (Art. 27 Abs. 1 SVG). Das geht soweit, dass man auch rechtswidrig aufgestellte Signale (z.B. wenn Signale nicht ordentlich gemäss Art. 107ff. SSV veröffentlicht wurden) beachten muss. Signale vermögen Fahrzeuglenker nur zu verpflichten, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie leicht und rechtzeitig erkannt werden können. Der Standort von Signalen richtet sich nach Art. 103 SSV.

Die fragliche Signaltafel zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 50 km/h stand im vorliegenden Fall am rechten Strassenrand etwas nach der Mitte einer Haarnadelkurve. Die Vorinstanz war der Meinung, dass insb. Motorradfahrer beim Befahren einer Linkskurve ihren Blick auf die weiterführende Strasse und nicht auf den rechten Fahrbahnrand richten. Zudem spreche der Umstand, dass ca. ein Viertel aller kontrollierten Lenker zu schnell waren, dafür, dass die Tafel schlecht sichtbar war. Das Bundesgericht sieht das anders. Die Tafel sei schon von weitem ersichtlich gewesen und auch wenn sie rechtswidrig aufgestellt worden wäre, hätte die Signalisationstafel wegen dem Vertrauensgrundsatz trotzdem beachtet werden müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.


Urteil 6B_731/2022: Das trügerische Radarfoto (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Fall wehrt sich der Beschwerdeführer gegen die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz verfiel in Willkür, als sie davon ausging, dass das Radarfoto den Beschwerdeführer zeige.

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Vorliegend geht es um eine Tempoüberschreitung von 22 km/h innerorts, also um eine einfache Verkehrsregelverletzung bzw. eine Übertretung. Das Bundesgericht prüft hier, ob der Sachverhalt von der Berufungsinstanz willkürfrei festgestellt wurde (Art. 398 Abs. 4 StPO).

Der Beschwerdeführer bestreitet, das Auto im Zeitpunkt der Verkehrsregelverletzung gefahren zu sein. Das Radarfoto zeigt eine männliche Person mit einer Gesichtsmaske. Im Verlaufe des Verfahrens musste der Beschwerdeführer Passfotos sämtlicher männlicher Mitarbeiter einreichen, die mit dem geblitzten Auto fahren durften. Das erstinstanzliche Gericht stellte zunächst fest, dass anhand der Passfotos nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob der Beschwerdeführer selber gefahren sei. Bei der Hauptverhandlung war das Gericht allerdings der Meinung, ihn anhand eines Passfotos als Lenker erkannt zu haben. Dieses Passfoto zeigte aber den Bruder des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Damit wurde der Sachverhalt aber willkürlich festgestellt. Die Sache wird zurückgewiesen.

Vertrauensgrundsatz und die unklare Verkehrssituation

Urteil 6B_272/2024: Vertrau mir doch!

Ein Busfahrer wehrt sich gegen eine Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung. Er ist mit seinem Linienbus in Rapperswil-Jona auf einen Kreuzungsbereich eingefahren, ohne zu bremsen oder zu verlangsamen. Dabei handelt es sich um eine Kreuzung, von welcher bekannt ist und die Buschauffeure auch entsprechend geschult werden, dass andere Verkehrsteilnehmer sich nicht immer an Lichtsignale halten. Es kam, wie es kommen musste, es gab auf der Kreuzung ein Kollision und der Busfahrer wurde wegen einer Vortrittsmissachtung bestraft. Er habe sich in dieser speziellen Situation nicht auf den Vertrauensgrundsatz gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG verlassen dürfen. Im Gegenteil lag aus Sicht der Vorinstanz ein Anwendungsfall von Art. 26 Abs. 2 SVG vor. Der Buschauffeur hätte nämlich besonders vorsichtig sein müssen, weil es Anzeichen dafür gab, dass sich Verkehrsteilnehmer nicht richtig verhalten würden. Das sieht dieser natürlich überhaupt nicht so, obwohl er einige Verkehrsteilnehmer wahrnahm, die sich nicht an die Lichtsignale hielten. Den von links kommenden Unfallgegner sah er aber nicht (stark zusammengefasst E. 1.1 – 1.2).

Die Frage hier lautet also, wann liegt eine Situation vor, in welcher man sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, obwohl man kein Fehlverhalten eines Unfallbeteiligten feststellt?

Grundsätzlich darf man ja darauf vertrauen, dass sich auf der Strasse alle richtig verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Dieser Grundsatz wird aber dadurch relativiert, dass dies nicht gilt, wenn sich jemand nicht richtig verhält. Dann muss man besondere Vorsicht walten lassen (Art. 26 Abs. 2 SVG). Es gibt aber Situationen, die so unübersichtlich sind, dass man generell defensiv fahren muss bzw. sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Das BGer definiert das so (E. 1.3.1):

„Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts der besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert.“

Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer ungebremst in eine Kreuzung, bei welcher bekannt ist, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht immer an die Regeln halten. Aus diesem Grund durfte der Busfahrer nicht darauf vertrauen, dass sich alle richtig verhalten, auch wenn er den Unfallgegner nicht gesehen hat. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Freiheits- vs. Geldstrafe und deren Aufschub

Urteil 6B_1332/2023: Die besonders günstigen Umstände nach Art. 42 Abs. 2 StGB (tlw. gutgh. Beschwerde)

Bei einem Überholmanöver verursachte der Beschwerdeführer einen Verkehrsunfall, bei welchem die Lenkerin und drei Insassen des anderen Fahrzeuges verletzt wurden. Ohne sich um den Sachschaden oder die verletzten Personen zu kümmern floh der Beschwerdeführer von der Unfallstelle. Sein Fahrzeug war bei seiner Flucht stark beschädigt und entsprach nicht mehr den Vorschriften. Am folgenden Tag stellte sich der Beschwerdeführer bei der Polizei.

Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 90 Tagen und einer Busse verurteilt wegen grober Verkehrsregelverletzung, Führerflucht und Lenken eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges. Grund dafür: Seine Vorstrafen. Mit seiner Beschwerde verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.

Die grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) sowie die Führerflucht (Art. 92 Abs. 2 SVG) sind Vergehen, die mit Freiheitsstrafe bis drei Jahren oder Geldstrafe sanktioniert werden können. Ein Gericht richtet sich bei der Strafzumessung nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB, wobei es über ein grosses Ermessen verfügt. Das Bundesgericht greift in die Strafzumessung deshalb nur ein, wenn

– die Strafe gesetzlich nicht vorgesehen ist,
– wenn sie auf anderen Kriterien als Art. 47 StGB gründet,
– wenn wichtige Elemente nicht berücksichtigt wurden,
– oder wenn ein Ermessensmissbrauch wegen zu milder oder harter Strafe vorliegt.

Das Gericht muss bei der Strafzumessung begründen, welche Elemente für die Strafe relevant waren, wobei es unwichtige Elemente nicht unbedingt erwähnen muss.

Das Gericht kann anstelle von Geldstrafen auch kurze Freiheitsstrafen anordnen, wenn die Voraussetzungen gemäss Art. 41 StGB erfüllt sind. Die Geldstrafe hat aber bei kleiner und mittlerer Kriminalität nach wie vor Vorrang. Nur wenn der Staat die öffentliche Sicherheit nicht anders garantieren kann, soll der Freiheitsstrafe der Vorrang gewährt werden. Sprechen sowohl gute Gründe für eine Geldstrafe, als auch Freiheitsstrafe, muss im Rahmen der Verhältnismässigkeit der Geldstrafe den Vorzug gegeben werden. Bei der Wahl der Strafe ist schliesslich nicht das Verschulden massgebend, sondern die spezialpräventive Wirkung der Strafe. Wählt es die Freiheitsstrafe, muss das Gericht dies ausführlich begründen (E. 1.1).

Das kantonale Gericht begründete die Wahl der Freiheitsstrafe im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer nur drei Monate vor dem Unfall aus einer Freiheitsstrafe (wegen versuchtem Mord) entlassen wurde. Zudem ist er mehrfach vorbelastet und erhielt auch schon Geldstrafen. Unter diesen Umständen durfte die kantonale Instanz davon ausgehen, dass eine Geldstrafe vorliegend keine Wirkung mehr habe. Die Dauer der Freiheitsstrafe begründete es zudem nachvollziehbar nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB (zum Ganzen E. 1.2-1.4).

Der Beschwerdeführer verlangt, dass die Freiheitsstrafe bedingt auszusprechen sei, weil besonders günstige Umstände gemäss Art. 42 Abs. 2 StGB vorlägen. Wenn eine Person vorbestraft ist, entfällt grundsätzlich die Vermutung einer günstigen Legalprognose. Im Gegenteil sind die Vorstrafen ein Indiz dafür, dass die betroffene Person weiterhin delinquieren wird. Eine besonders günstige Prognose kann unter Würdigung aller Umstände vorliegen, wenn

– die zu beurteilende Straftat nicht mit den Vorstrafen zusammenhängt,
– oder sich die Lebensumstände der betroffenen Person besonders positiv verändert haben.

Auch bei dieser Beurteilung hat das Gericht einen grossen Ermessenspielraum. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn das Gericht hauptsächlich auf die Vorstrafen abstellt und übrige Einzelheiten ausser Acht lässt (E. 2.1).

Die kantonale Instanz hob zwar viele positive Entwicklungen des Beschwerdeführers hervor. Allerdings waren die Vorstrafen zu gravierend, als dass man nach Ansicht der Vorinstanz von einem besonders günstigen Fall hätte ausgehen können. Darin erblickt das Bundesgericht einen Ermessensmissbrauch. Aus Sicht der Bundesrichter wurde im kantonalen Verfahren zu sehr auf die Vorstrafen abgestellt. Denn der Beschwerdeführer führt mittlerweile wieder ein stabiles und strukturiertes Leben. Zudem bezieht sich das SVG-Delikt nicht auf seine Vorstrafen. Das Bundesgericht geht also von einem besonders günstigen Fall aus. Die Sache wird zur Festlegung der Probezeit an die Vorinstanz zurückgewiesen (E. 2.2 – 2.3).

Falsche Geschwindigkeitsmessung!

Urteil 7B_246/2022: Bitte etwas mehr Reflexion! (gutgh. Beschwerde)

Schnellfahren gehört zur Massendelinquenz im Strassenverkehr. Die pragmatische Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Geschwindigkeitsüberschreitung sowie der Schematismus zum Schnellfahren sorgen dafür, dass Beschwerden bei Geschwindigkeitsüberschreitungen regelmässig abgelehnt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass es i.c. dem Beschwerdeführer gelungen ist, vor Bundesgericht zu reüssieren. Aus seiner Sicht wurde die Messung falsch durchgeführt, denn auf den Fotos des mobilen Blitzkastens sei eine Reflexion zu sehen, die die Messung fehlerhaft macht.

Im kantonalen Verfahren verlangte der Beschwerdeführer also ein Gutachten darüber, ob die Messung korrekt war und damit auch als Beweis verwertbar. Indem aber die kantonalen Behörden dieses Gutachten nicht einholten, wurde aus Sicht des Beschwerdeführers aber das rechtliche Gehör sowie das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzt.

Kontrollen im Strassenverkehr richten sich nach der Strassenverkehrs-Kontrollverordnung (Art. 1 SKV). Bei diesen Kontrollen können technische Hilfmittel, wie eben Blitzkästen bei Geschwindigkeitsmessungen, eingesetzt werden, wobei das ASTRA die Einzelheiten zu diesen Messungen regelt (Art. 9 SKV). Für Geschwindigkeitsmessungen hat das ASTRA die „Weisung über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ vom 22. Mai 2008 erlassen. In Ziffer 6.1 heisst es zum Einsatzort unter anderem:

„Radargeräte sind so aufzustellen und zu betreiben, dass Reflexionsfehlmessungen, verursacht durch metallische Flächen oder Gitter, vermieden werden. Dieser Möglichkeit ist bei der Aufstellung und Wahl der Empfindlichkeit des Gerätes durch die Kontrollperson besondere Beachtung zu schenken.“

Im vorliegenden Fall war erstellt, wo der Blitzkasten stand (E. 3.4.1), das Gerät war geeicht und funktionierte korrekt. Ebenso war die Messung ohne Zweifel dem Auto des Beschwerdeführers zuzuordnen (E. 3.4.3).

Nun kommt aber die Krux zur Reflexion: Der Beschwerdeführer machte zu Recht geltend, dass einer der Polizisten angab, dass die Radarbilder eine geringfügige Reflexion zeigten, die mutmasslich wegen einer Kilometrierungstafel entstanden. Da Reflexionen gemäss den obigen Weisungen zu einer Fehlmessung führen können, verletzte die Vorinstanz das rechtliche Gehör, indem sie auf dieses Vorbringen des Beschwerdeführers nicht weiter einging. Die Beschwerde wird gutgeheissen, damit ein Gutachten Aufschluss darüber geben kann, ob die Messung der Geschwindigkeit fehlerhaft war.

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